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V. Seele und Seeleninstanzen
langfristige Perspektive und der Blick auf das Ganze auch schon
bei der einzelnen Handlung enthalten ist. ©?
Anders steht es beim triebhaften Antrieb, dem &rı9uuntLx6v.
Das Streben nach Lust und Triebbefriedigung im konkreten Fall
kann dem langfristig verfolgten Ziel im Wege stehen und das
Lustkalkül negativ beeinflussen. Der mögliche Konflikt zwischen
dem spontanen Antrieb zur Bedürfnisbefriedigung und dem Streben
nach maximaler Lust wird freilich, aus durchsichtigen Gründen, in
der ‘Politeia’ nicht zur Sprache gebracht.°®° Immerhin dürfte auch
so deutlich sein, daß ein E&rı9uuntıx6v, das zu eiserner Sparsam-
keit treibt und sich aus Gier nach Reichtum alle Wünsche ver-
sagt, ein anders gearteter Antrieb ist als der Impuls zu spontaner
Triebbefriedigung.
Die deutlichsten Konsequenzen ergeben sich aus der Diskrepanz
zwischen spontanem Wunsch (Konzeption 2a) und langfristigem
Streben (Konzeption 2b) bei der streitlustigen Instanz, dem
SufosıSEc. Diesem wird bei seiner Einführung (2a) die Bedeutung
von Wut und (gerechter) Empörung beigemessen; die langfristigen
659 Vgl. Arist.de An.433b5-10. — Dennoch läßt sich das oben umrissene
simplifizierende Schema durch Belege allein aus der ‘Politeia’ ins Wanken
ringen, wie Patterson [1987] vorführt. Patterson zufolge kann auch das Stre-
ben der vernünftigen Instanz nach Erkenntnis das richtige oder das falsche Ob-
jekt adressieren; so gestehe etwa Sokrates in 354a13-c3 selbst ein, die Un-
tersuchung nicht richtig geführt zu haben, weil er sich von einer anderen, ihn
interessierenden Frage habe ablenken lassen. Wenn aber ein Erkenntnisstreben
von einem anderen (und zwar: vom richtigen) wegführen könne, könne die
Vorstellung nicht richtig sein, die vernünftige Instanz und ihr Streben seien
stets auf das Gute gerichtet. Patterson folgert, daß die vernünftige Instanz al-
lein, ohne jedes Zutun der übrigen seelischen Instanzen in der Seele, bei ihrem
Streben nach Erkenntnis in Konflikt mit sich selbst geraten kann und, um dies
zu vermeiden, ‚intrarationale Tugenden‘ wie etwa Selbstbeherrschung benötigt.
— Pattersons Argumente zeigen in der Tat, daß die üblichen Darstellungen der
(angeblichen) Seelenlehre in der ‘Politeia’ den Befund schematisch vereinfa-
chen, um ihn kohärent erscheinen zu lassen; fraglich scheint mir allerdings
seine Folgerung, Platon habe in Wahrheit eine weit kompliziertere Seelenlehre
andeuten wollen (die z.B. neben dem Ovpwoeıstg auch noch ein ‚rationales
duuoeLöEc‘ enthält). Patterson läßt unberücksichtigt, daß die vereinfachenden
Schemata nicht einem psychologischen Lehrwerk entstammen, sondern Absich-
ten im sokratischen Argument dienen (vgl. die Einleitung sowie Kap. VI, B und
CO).
660 Daher ist in der ‘Politeia’ von einem Lustkalkül keine Rede. Anders steht
2s in ‘Protagoras’ 351 b-360 e, wozu Gosling/Taylor [1982] 45-68.