C. Persuasive Techniken
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(anonymen) Leser, sondern an die Personen, auf deren Belange es
konkret zugeschnitten ist.%? Dem Leser soll sicherlich einsichtig
erscheinen, daß Glaukon und Adeimantos das sokratische Vorgehen
akzeptieren und mittragen; dies bedeutet aber nicht automatisch,
daß auch er, der ja nicht Adressat, sondern Zeuge des (fingierten)
Gesprächs ist, Sokrates gutgläubig folgen soll.
Es ist vielmehr ganz unwahrscheinlich, daß Platon mit dieser
Vorgehensweise seine Leser über argumentative Schwachstellen
des in der ‘Politeia’ entwickelten Arguments hinwegtäuschen
möchte. Nimmt man für Platon diese Intention an, so wird die
recht deutliche Kennzeichnung des sokratischen Arguments als im-
provisiert und nicht wissensbasiert geradezu widersinnig.®!? Im üb-
rigen verfügt der Leser, der den Text in Händen hält, im Gegen-
satz zu den Dialogfiguren über ein probates‘ Mittel, sokratische
Finten zu durchschauen: die wiederholte aufmerksame Lektüre des
Dialogs. Und Platon hat seinen Text offenbar so gestaltet, daß
der Leser, der sich von ihm gegebenenfalls auch kritisch zu
in Anm. 808 genannten Arbeiten vgl. etwa noch Sachs [1963]; Demos [1964];
Hall [1971]; Wartofsky [1971]; Santas [1972]; Hall [1974]; Page [1991]). Weil
man zwischen Äußerungen von Dialogfiguren und Autormeinung nicht unter-
scheidet, wird die Fragestellung von vornherein falsch präfiguriert und die Pa-
lette der denkbaren Erklärungen fatal verengt: auf (logische) Fehler oder un-
redliche Absichten Platons. — Anders Gadamer [1985/91] VI 174, der die Dia-
logform in Rechnung stellt: „Wenn Sokrates sich oft sophistischer Argumenta-
tionskünste bediente, so hat das jedenfalls nichts mit dem Stande der damali-
gen Logik zu tun. ... Wenn wir in platonischen Dialogen und in der sokrati-
schen Argumentation Verstöße gegen das logische Denken, Fehlschlüsse, Kurz-
schlüsse, Äquivokationen, Begriffsverwechslungen finden, dann ist die vernünf-
tige hermeneutische Voraussetzung zu machen, daß es sich hier um Gespräche
handelt. ... Selbst der Schöpfer der ersten gültigen Logik, Aristoteles, ist sich
dieser Dinge wohl bewußt, wenn er an einer berühmten Stelle der ‘Metaphysik’
erklärt, der Unterschied zwischen Dialektik und Sophistik liege nur in der
No0CAipE0LS TOU ßiov (Met. IT 2, 1004b 24), d.h. nur darin, daß es dem Dialek-
tiker wirklich emst ist mit den Dingen, die im sophistischen Gebrauch lediglich
das Spiel des Rechthabens und Rechtbehaltens ausfüllen.“
812 Vgl. oben Kap.1, B (v.a. S.39-42).
813 Vgl. oben S.32-35 und S.42-45.
814 Für das Folgende spielt keine Rolle, ob der Text gelesen oder vorgelesen
wird (vgl. Anm. 568); auch im zweiten Fall sind Wiederholungen und die Kom-
binztion auseinanderliegender Passagen möglich. — Ein instruktives Beispiel
für das Vorgehen bei der Analyse eines nur mündlich vorgetragenen Textes bie-
tet das Gespräch über die Lysiasrede im ‘“Phaidros’ (262c5-264e 3).