Full text: Dialogform und Argument

C. Persuasive Techniken 
285 
(anonymen) Leser, sondern an die Personen, auf deren Belange es 
konkret zugeschnitten ist.%? Dem Leser soll sicherlich einsichtig 
erscheinen, daß Glaukon und Adeimantos das sokratische Vorgehen 
akzeptieren und mittragen; dies bedeutet aber nicht automatisch, 
daß auch er, der ja nicht Adressat, sondern Zeuge des (fingierten) 
Gesprächs ist, Sokrates gutgläubig folgen soll. 
Es ist vielmehr ganz unwahrscheinlich, daß Platon mit dieser 
Vorgehensweise seine Leser über argumentative Schwachstellen 
des in der ‘Politeia’ entwickelten Arguments hinwegtäuschen 
möchte. Nimmt man für Platon diese Intention an, so wird die 
recht deutliche Kennzeichnung des sokratischen Arguments als im- 
provisiert und nicht wissensbasiert geradezu widersinnig.®!? Im üb- 
rigen verfügt der Leser, der den Text in Händen hält, im Gegen- 
satz zu den Dialogfiguren über ein probates‘ Mittel, sokratische 
Finten zu durchschauen: die wiederholte aufmerksame Lektüre des 
Dialogs. Und Platon hat seinen Text offenbar so gestaltet, daß 
der Leser, der sich von ihm gegebenenfalls auch kritisch zu 
in Anm. 808 genannten Arbeiten vgl. etwa noch Sachs [1963]; Demos [1964]; 
Hall [1971]; Wartofsky [1971]; Santas [1972]; Hall [1974]; Page [1991]). Weil 
man zwischen Äußerungen von Dialogfiguren und Autormeinung nicht unter- 
scheidet, wird die Fragestellung von vornherein falsch präfiguriert und die Pa- 
lette der denkbaren Erklärungen fatal verengt: auf (logische) Fehler oder un- 
redliche Absichten Platons. — Anders Gadamer [1985/91] VI 174, der die Dia- 
logform in Rechnung stellt: „Wenn Sokrates sich oft sophistischer Argumenta- 
tionskünste bediente, so hat das jedenfalls nichts mit dem Stande der damali- 
gen Logik zu tun. ... Wenn wir in platonischen Dialogen und in der sokrati- 
schen Argumentation Verstöße gegen das logische Denken, Fehlschlüsse, Kurz- 
schlüsse, Äquivokationen, Begriffsverwechslungen finden, dann ist die vernünf- 
tige hermeneutische Voraussetzung zu machen, daß es sich hier um Gespräche 
handelt. ... Selbst der Schöpfer der ersten gültigen Logik, Aristoteles, ist sich 
dieser Dinge wohl bewußt, wenn er an einer berühmten Stelle der ‘Metaphysik’ 
erklärt, der Unterschied zwischen Dialektik und Sophistik liege nur in der 
No0CAipE0LS TOU ßiov (Met. IT 2, 1004b 24), d.h. nur darin, daß es dem Dialek- 
tiker wirklich emst ist mit den Dingen, die im sophistischen Gebrauch lediglich 
das Spiel des Rechthabens und Rechtbehaltens ausfüllen.“ 
812 Vgl. oben Kap.1, B (v.a. S.39-42). 
813 Vgl. oben S.32-35 und S.42-45. 
814 Für das Folgende spielt keine Rolle, ob der Text gelesen oder vorgelesen 
wird (vgl. Anm. 568); auch im zweiten Fall sind Wiederholungen und die Kom- 
binztion auseinanderliegender Passagen möglich. — Ein instruktives Beispiel 
für das Vorgehen bei der Analyse eines nur mündlich vorgetragenen Textes bie- 
tet das Gespräch über die Lysiasrede im ‘“Phaidros’ (262c5-264e 3).
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.