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VI. Platonische Dialoggestaltung
Es spricht demnach viel für die Annahme, daß Platon in der ‘Po-
liteia’ nicht an die Gutgläubigkeit, sondern an das kritische Denk-
vermögen seiner Leser appelliert. ®2 Dies deutet darauf, daß der
Einsatz persuasiver Techniken nicht nur zum literarischen Instru-
mentarium des Autors gehört, sondern auch im Dienste einer phi-
losophischen Intention steht. Wenn dies zutrifft, ist der Leser
aufgefordert, die argumentativen Desiderate der sokratischen Be-
weisführung, deren provisorischer Charakter ihm als solcher klar
vor Augen gestellt wird, im konkreten Fall nachzuweisen und
exakt zu bestimmen. ®3 Die ‘Politeia’ wäre dann, wie offensicht-
lich auch andere Dialoge Platons,®* nicht nur ein literarisches
Meisterwerk ersten Ranges, sondern zudem ein anspruchsvolles
Stück philosophischer Schulung.
Falsch ist, sondern es belegt, wie_wirkungsvoll falsche Prämissen, unkorrekte
Methoden und eingefahrene Irrtümer, wie sie in dieser Arbeit häufig kritisiert
sind, den Blick auf den Text selbst verstellen können (vgl. die Einleitung).
822 Vgl. oben die Anmerkungen 34. 150. 205. 224. 430. 453 (siehe Willi-
ams). 454. 493. 520. 550; ferner Anm.568. — Man erinnert sich an die in
523a5-524d6 formulierte (freilich an anders gelagerten Beispielen demon-
strierte) Maxime, daß Unvereinbarkeiten das Denkvermögen zur Prüfung auf-
fordern.
823 Vgl. M. Frede [1992] 217: “If the author’s concern is for the reader’s
knowledge he should thwart the reader’s temptation to adopt the author’s
views for the wrong reasons, e.g. because they are Plato’s, or because Plato
offers an excellent argument for them. Rather he should make sure that the
reader is forced to sort out his own beliefs by pursuing the different kinds of
argumentative lines which connect these beliefs in all directions, e.g. by con-
sidering the arguments of the dialogues, by trying to figure out which premiss
of the elenchus the respondent should have abandoned, by working out how an
appealing argument in the dialogue might be made consistent with his own be-
liefs, or the other way round.” Dazu Fredes Fazit (219): “It turms out that
Ihere are a large number of reasons why Plato may have chosen to write in
such a way as to leave open, or to make it very difficult to determine,
whether or not he endorses a particular argument. It seems that these reasons
are at the same time reasons against writing philosophical treatises, and hence
öffer an explanation as to why instead Plato wrote the kind of dialogue he
did”.
324 Ein ähnliches Fazit läßt sich offensichtlich für Dialoge wie ‘Kratylos’
(siehe Heitsch [1984]) und ‘“Theaitet’ ziehen (siehe Heitsch [1988 a]); eine um-
fassende Untersuchung platonischer Dialoge unter diesem Aspekt wäre sicher-
lich lohnend. Allgemein zu dieser Funktion platonischer Dialoge Heitsch
[1988 b] (auch in Heitsch [1992 a] /KS, 9-28).