A. Beweisziel und Aufbau des sokratischen Arguments
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ist. Im dreiteiligen Aufbau dieses Arguments bildet sie, wie die
Ankündigung verdeutlicht, den zweiten Teil und die Voraussetzung
für den dritten. °
Die Darstellung der vier schlechten Ordnungen ist aus Sicht der
Gesprächspartner also integraler Bestandteil des sokratischen Ar-
guments. Zu klären bleibt die genaue Funktion, die sie in diesem
Argument hat. Unmittelbar ersichtlich ist aus dem formulierten
Beweisziel nur die Funktion der Beschreibung der extrem schlech-
ten Ordnung in Polis und Seele, der Tyrannis und des Tyrannen:
Sie ist die Ausgangsbasis ist für den geforderten Glücksvergleich.
Offen bleibt aber die Funktion der drei übrigen Beschreibungen,
und offen bleibt auch, weswegen ein Wandel der Verfassungen
geschildert wird. Diese Fragen erfordern ein weiteres Ausholen;
behandelt werden sie in den beiden folgenden Kapiteln (II und
N.
Das von Sokrates entwickelte Argument reicht also mindestens
bis zum Ende von Buch IX und schließt den sogenannten Verfas-
sungswandel ein. Der positivistische Ansatz, der die Darstellungen
der Bücher VIII und IX vom Argument der ‘Politeia’ abtrennt und
mit ihnen so umgeht, als handle es sich hier um thematisch
locker angefügte Bemerkungen des Autors über die Verfassungen
seiner Zeit, führt demnach in die Irre.® Er verstößt zum einen
gegen die Interpretationsmaxime, daß Textpassagen in ihrem Kon-
text und mit Blick auf ihre dortige Funktion zu beurteilen sind,
zum anderen gegen die Regel, daß die literarische Gattung eines
Textes auch seine Deutung bestimmt, daß also ein Dialog nicht
zu lesen ist wie ein Traktat.®°7
65_Die_ Ankündigung. wird exakt_eingelöst, Im_Anschluß an_die Behandlung
der. schlechten Ordnungen. (545 c 8-576 b 10). erfolgt. der Glücksvergleich, und er
erfolgt nur zwischen den. extremen. Ausprägungen..des. .gerechten..und des..unge-
rechten Menschen. Das erste der drei Glücksargumente (576b11-580c 8). ba-
siert auf der vorausgehenden Beschreibung des tyrannischen. Menschen.
56 Die gängige Deutung ist weithin charakterisiert durch das, was Gadamer
[1985/91] VII 282 die „Naivität“ genannt hat, „überall unsere historische Neu-
gierde befriedigen zu wollen“.
57 Vgl. dazu oben die Einleitung.