IH. Die schlechten Ordnungen in Polis und Seele
2) Die Feststellung, die Zwischenformen fänden sich nicht selte-
ner bei den Barbaren als bei den Griechen (544d3-4), ‚suggeriert
eine Vielzahl solcher Formen (vgl. 445c4-7) und ihr weltweites
Vorkommen; ?°% welche Funktion haben aber diese Aussagen im ak-
tuellen Kontext? Zu dem von Sokrates angedeuteten Auswahlkrite-
rium besteht kein ersichtlicher Bezug, denn weder müssen klar
ausgeprägte Verfassungstypen immer griechisch noch griechische
Verfassungen immer Typen sein. Eher wendet sich die Bemerkung
an das unbewußte Empfinden des Griechen, wirklich behandeln-
swerte Arten seien außerhalb der griechischen Welt wohl kaum zu
finden. Eine Differenzierung zwischen griechischen und nichtgrie-
chischen politischen oder seelischen Ordnungen findet sich in der
‘Politeia’ sonst freilich nicht; Sokrates spricht über die Wirkung
von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in der menschlichen, nicht
in der griechischen Seele.?3 Der Sinn der Bemerkung scheint
demnach vor allem in ihrer rhetorischen Wirkung zu liegen.?* Der
Dialogautor aber schafft sich Gelegenheit, Glaukon eine Antwort
in den Mund zu legen, die jede Stellungnahme zu der wirklich in-
teressanten Frage, ob und wieweit Glaukon die‘ sokratische Aus-
wahl einleuchtet, vermeidet (544 d 5).2%5
202 Die Zusammenstellung ‚Griechen und Barbaren (= Nichtgriechen)‘ bedeu-
tet etwa ‚die ganze Welt‘ (z.B. Cri.53a1l. Lys.210b1-2. Lg.680b2-3), wird
in Plt.262c 10-d6 als üblich bezeichnet und als sachlich unangemessen kriti-
siert (vgl. Kerschensteiner [1945] 59 Anm.3). Zur platonischen (und zur grie-
chischen) Auffassung von den ‚Barbaren‘ s. Levy [1984]; Lisi [1985] 330-336
mit Anm.82; Dihle [1994] (v.a. 36-53); zu ihrer ‚naturwissenschaftlichen‘ Be-
gründung (Hippokrates, ‘Über die Umwelt’) s. Backhaus [1976].
203 Obgleich die in der ‘Politeia’ behandelten politischen Ordnungen zweifel-
los implizit auf die griechische Staatenwelt bezogen sind (Adam II 200; Fuks
[1977] 55 u.a.), Sokrates zu Griechen spricht und Platon für Griechen
schreibt, ist die generalisierende Tendenz der sokratischen Ausführungen un-
verkennbar (Burnyeat [1989] 101 spricht vom “standpoint of both temporal and
geographical neutrality”). In der Frage nach der Herstellbarkeit der guten Ord-
nung wird zwischen griechischem Gebiet und der übrigen Welt nicht prinzipiell
unterschieden (499 c7-d6; hingegen 470e 4-6), und auch 592a11 (‚nirgendwo
auf Erden‘) formuliert diesbezüglich keinen Unterschied.
204 Die Bemerkung stützt auch konkret die sokratische Auswahl: Die (aufge-
nommene) kretische und lakonische Ordnung ist griechisch, das käufliche König-
tum wohl nichtgriechisch. (karthagisch, ‚vgl. Anm. 193).
205 Die von Sokrates gestellte Frage, ob Glaukon noch weitere Ordnungen
kennt, die die Kriterien erfüllen (544 c 8-41), bleibt, wie kaum zu übersehen.