[. Die ‚geometrische Zahl‘
C. Die mathematische Aufgabe
Wie hat sich dieser Befund, der für den modernen Interpreten
zvidentermaßen eine Reihe von Unklarheiten in sich birgt, für den
antiken Rezipienten dargestellt? Sah sich bereits der Leser zu
Platons Zeit vor teils vagen, teils unzulänglichen Angaben, oder
gibt es Grund zu der Annahme, daß ein mathematisch versiertes
zeitgenössisches Publikum hier eine ihm durchaus verständliche
Berechnungs- oder Konstruktionsanweisung vorfand, deren Sinn
erst späteren Lesern unklar geworden ist?
Für die letztgenannte Auffassung hat man wiederholt die Tatsa-
che geltend gemacht, daß Aristoteles die mathematische Passage
erwähnt, ohne jedoch ihren mathematischen Sinn zu erläutern;
daraus meinte man schließen zu dürfen, Aristoteles habe den Sinn
der mathematischen Angaben für vollkommen klar gehalten. !®
Dieser Schluß ist jedoch — wie schon die Tatsache vermuten
‚aRt, daß man aus Aristoteles’ Worten auch das Gegenteil ‚er-
schließen‘ konnte —1%°4 keineswegs ‚zwingend:
Daß Aristoteles die mathematischen Angaben nicht erläutert,
muß nicht bedeuten, daß er sie für verständlich, sondern es kann
auch bedeuten, daß er sie im Rahmen seiner Absicht, die Stich-
haltigkeit der Erklärung für die Auflösung der guten Ordnung zu
überprüfen, einfach für irrelevant gehalten hat; Irrelevantes aber
blendet Aristoteles in der fraglichen Passage (Pol.1316 a1-b 27),
546c2 (kein mathematischer Terminus, sachlich mehrdeutig), 546 c2 (unscharfe
Wortverwendung, mehrere unklare oder fehlende Angaben), 546c3-4 (rätsel-
hafte Ausdrucksweise), 546c4-5 (Umschreibung der Zahl 48 als kommensura-
bdle oder inkommensurable Diagonale der Fünf minus Eins oder Zwei) und
546c6 (Umschreibung der Zahl 27 statt direkter Angabe). Im ersten Satz
(546 b5-c 1) werden nur Rechenoperationen, aber keine Zahlen genannt (siehe
oben S.27f.), im zweiten Satz finden sich Zahlen, aber es fehlen wichtige
Angaben zur Berechnung (etwa zur Verknüpfung der beiden ‚Harmonien‘). (Eine
Reihe weiterer Unsicherheiten kommt oben in den Einzelerläuterungen zur
Sprache.)
‘(63 In diesem Sinne etwa Susemihl [1855/60] 224 Anm.44; Adam [1891] 10;
Brumbaugh [1954] 282 Anm.43; Ehrhardt [1986] 410. Gaiser [1974] 53 schreibt,
Aristoteles scheine „die authentische Auslegung als bekannt vorauszusetzen“,
164 So hat Monro [1879] 286 den Eindruck, daß Aristoteles die Angaben als
rätselhaft empfand und er “evidently felt some obscurity”; ähnlich Günther
[1882] 150f. und andere.