Kapitel II:
Die Rede der Musen
Um zu zeigen, daß der gerechte Mensch besser lebt als der unge-
rechte, behandelt Sokrates in der ‘Politeia’ zunächst (Bücher II bis
VID die vollendet gute und gerechte Ordnung in Polis und Seele,
dann (Bücher VIII und IX, bis 576b) vier ungerechte Ordnungen,
denen politische Namen beigelegt werden: Timokratie, Oligarchie,
Demokratie und Tyrannis. Schließlich werden der gerechte und der
ungerechte Mensch hinsichtlich ihres Glücks miteinander vergli-
chen (Buch IX, ab 576c). Das sokratische Argument im ganzen
ist also dreiteilig aufgebaut. ?®
Der zweite dieser drei Teile setzt ein mit rekapitulierenden und
programmatischen Bemerkungen (543 c4-545c 7). Anschließend
wird der Versuch einer Erklärung dafür angekündigt, wie sich aus
der vollendet guten Ordnung eine Timokratie entwickeln kann
(545 c 8-9).266
Diese Ankündigung kommt für den Leser überraschend. Denn
zum einen wird hier erst wirklich deutlich, daß Sokrates nicht nur
die vier ungerechten Ordnungen schildern möchte, sondern auch
deren Entwicklung; noch die programmatischen Bemerkungen in
544a1-8 und 545a2-c5 hatten nicht den geringsten Hinweis auf
eine solche Absicht enthalten. Somit stellt sich natürlich auch die
Frage, welchen Zweck diese Ausweitung der angekündigten Dar-
stellung verfolgt.?7 — Zum anderen sieht sich der Leser unver-
mutet mit dem Eingeständnis konfrontiert, daß auch die gute Ord-
nung vergänglich ist. Dieses Eingeständnis ist nicht nur deswegen
erstaunlich, weil frühere Ausführungen den Eindruck hinterlassen
265 Offen zutage liegt dieser Aufbau etwa in den programmatischen Bemer-
kungen in 543c4-545c7 (v.a. 543c7-544a8 und 544 e 7-545b 2).
266 dEoe tTolvuv, Av S° EyO, NELQGLEOM AEyELV TIVA TQONOV TLWOXQATLA
y&voıt? &v SEE doLotoxgartiac. (Der Terminus dgEL0tOxXgArTIA steht hier, wie oft,
für die vollendet gute und gerechte Ordnung.)
267 Ein Antwortversuch bei Blößner [1997] 108-151. Zu den die Ankündigung
immerhin vorbereitenden Andeutungen in 449 a 7-8 und 544 c 5-6 ebd. 106 f.