Full text: Träumereien an französischen Kaminen: Märchen

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so genau erinnere ich mich noch daran. Und doch ist alles noch tausendmal 
schöner geworden, als ich es geträumt; und du bist auch noch tausendmal lieber 
und hübscher als die junge Frau, die mir damals im Traume erschienen war." 
Und die Frau sah ihn wieder mit großen Augen an; darauf fuhr er fort: „Was 
nun aber den Baum anbelangt und den Traum, Herzensschatz, so denke ich: wer gern 
tanzt, dem ist leicht gepfiffen; und: wie man in den Wald schreit, so schallt es wieder 
heraus. War es mir die vielen Jahre weh und übel unter den fremden Leuten ge 
gangen, so war's wohl kein Wunder, wenn ich auch einmal von was Liebem träumte." 
„Daß du aber gerade geträumt hast, du würdest mich heiraten!" 
„DaS hab ich nie geträumt! Bloß eine junge Frau sah ich mit zwei Kindern, 
und sie war lange nicht so hübsch wie du, und die Kinder auch nicht." 
„Pfui!" erwiderte die Frau. „Willst du mich verleugnen oder den Baum ? 
Hast du mir nicht am ersten Tage wo wir uns sahen — eS war schon Abend 
und draußen in der Laube — hast du mir da nicht gleich gesagt, du hättest 
geträumt, du würdest mich heiraten und Kroncnwirt werden?" 
Da fiel dem Mann zuin ersten Male wieder der Scherz ein, den er sich 
damalö mit seiner jetzigen Frau erlaubt hatte, und er sagte: „Es kann nichts helfen, 
liebe Frau! Ich habe wirklich damals nicht von dir geträumt; und wenn ich es 
gesagt, so war cs nur ein Scherz. Du warst so neugierig; da wollte ich dich necken!" 
Da brach die Fra» in ein heftiges Weinen aus und ging hinaus. Nach 
einer Weile ging er ihr nach. Sie stand im Hof am Brunnen und weinte 
immer noch. Er versuchte sie zu tröste», doch vergeblich. 
„Du hast mir meine Liebe gestohlen und mich um mein Herz betrogen!" 
sagte sic. „Ich werde nie wieder froh werden!" 
Da fragte er sie, ob sie ihn denn nicht lieb hätte, so lieb wie keine» andern 
Menschen auf der Welt, und ob sie nicht zufrieden und glücklich miteinander 
gelebt hätten, wie niemand weiter im Dorf. Sie mußte alles zugeben, aber sie 
blieb traurig wie zuvor, trotz allem Zureden. 
Da dachte er: „Laß sie sich ausweinen! Ueber Nacht kommen andre Ge-
	        
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