7 LoUmann-Leander, Träumereien
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denn, es fand sich niemand, der mit ihm ausgehen wollte. Es war noch blasser
geworden, und gewachsen war es in dem letzten Jahre gar nicht.
Als nun die neue Mutter ins Haus kam, dachte es: „Jetzt wirst du wieder
spazieren gehen vor die Stadt, im lustigen Sonnenschein auf den hübschen
Wegen, an denen die schönen Strauche und Blumen stehen, und wo die vielen
geputzten Menschen sind." Denn cs wohnte in einem kleinen, engen Gaßchen,
in welches die Sonne nur selten hincinschicn; und wenn man auf dem Fenster-
brette saß, sah man nur ein Stückchen blauen Himmel, so groß wie ein Taschen
tuch. Die neue Mutter ging auch jeden Tag aus, vormittags und nachmittags.
Dazu zog sie jedes Mal ein wunderschönes buntes Kleid an, viel schöner, als die
alte Mutter je eins besessen hatte. Doch das kleine Mädchen nahm sic nie mit sich.
Da faßte sich das letztere endlich ein Herz, und eines TageS bat es sie
recht inständig, sie möchte cs doch mitnehmen. Allein die neue Mutter schlug
es ihr rund ab, indem sie sagte: „Du bist wohl nicht recht gescheit! Was
sollen wohl die Leute denken, wenn ich mich mit dir sehen lasse? Du bist ja
ganz bucklig. Bucklige Kinder gehen nie spazieren, die bleiben immer zu Hause."
Darauf wurde das kleine Mädchen ganz still, und sobald die neue Mutter
das Haus verlassen, stellte cs sich auf einen Stuhl und besah sich in: Spiegel;
und wirklich, es war bucklig, sehr bucklig! Da setzte eö sich wieder auf sein
Fensterbrett und sah hinab auf die Straße, und dachte an seine gute alte Mutter,
die es doch jeden Tag mitgenommen hatte. Dann dachte cs wieder an seinen Buckel:
„Was nur da drin ist?" sagte es zu sich selbst, „cs muß doch etwas in
so einem Buckel drin sein."
Und der Sommer verging, und als der Winter kam, war das kleine Mädchen
noch blasser und so schwach geworden, daß cs sich gar nicht mehr auf daö Fenster
brett setzen konnte, sondern stets im Bett liegen mußte. Und als die Schnee
glöckchen ihre ersten grünen Spitzchcn aus der Erde hervorstrecktcn, kam eines
Nachts die alte gute Mutter zu ihm und erzählte ihm, wie golden und herrlich
es im Himmel aussähe.