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18. Das Findelwesen.
Referent Geh. San.-Rat Josef Meier.
Im Findelwesen wurzeln die Anfänge der Säuglingsfürsorge. In
den meisten Ländern hat diese ursprünglichste Form der Fürsorge
für Mutter und Kind auch heute noch ihre Vertretung, wenn auch da
und dort dem Geiste moderner Fürsorge entsprechend verändert und
ausgebaut.
Die Entwicklung des Findelwesens im Verlaufe fast zweier Jahr-
tausende lässt eine geschichtliche Betrachtung dieser Fürsorge nicht
umgehen, will man ihr eine gerechte Würdigung zuteil werden lassen.
Die grösseren Monographien über das Findelwesen sind allerdings fast
durchwegs zu einseitig historisch diesem Fürsorgegebiete nach-
gegangen und haben dadurch auf jene Findelhäuser die allgemeine
Aufmerksamkeit gelenkt, die auch heute noch auf diesem historischen
Boden weiterarbeiten. Das Findelwesen in seiner neuzeitlichen Ent-
wicklung ist aber eine soziale Aufgabe des Staates geworden, deren
Wert nur gemessen werden kann an anderen öffentlichen Fürsorge-
einrichtungen, die die gleichen Aufgaben auf anderem Wege lösen
wollen.
Die deutsche Fürsorge der Gegenwart kennt bekanntlich das Fin-
delwesen nicht. Wie fremd diese Art der Fürsorge uns geworden
ist, zeigt sich darin, dass bis herauf in die neueste Zeit keine einzige
Monographie über dieses Fürsorgegebiet in unserer reichen deutschen
Fürsorgeliteratur erschienen ist. Wir beziehen unsere literarischen
Kenntnisse aus Oesterreich, und diese werden zumeist beherrscht von
dem bekannten Buche des österreichischen Arztes Hügel: „Die
Findelhäuser und das Findelwesen Europas‘. Der ablehnende Stand-
punkt, der in diesem, schon im Jahre 1862 erschienenen Buche dem
Findelwesen gegenüber eingenommen wird, konnte bei uns das gegen
diese Fürsorge bestehende Vorurteil nur. noch bestärken. Erst das
Jahr 1913 brachte uns auch eine eingehendere deutsche Arbeit: „Das
Findelwesen, seine geschichtliche Entwicklung und sittliche Bewer-
tung“ von Dr. Ludwig Ruland, einem theologischen Dozenten an
der Universität Münster. Diese lesenswerte Schrift bringt eine sach-
kundige Gegenüberstellung der Findelfürsorge und des gegenwärtigen
deutschen Fürsorgesystems. Ruland kommt dabei zu einer wohl-
wollenden Kritik des Findelwesens. Sein Standpunkt ist insoferne
nicht <xanz unberechtigt, als sich an vielen Orten das Findelwesen