Full text: Der kleine Lord

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nicht vergessen; so oft ich das Tuch sehe, werde ich an ihn 
denken/' 
Die Empfindungen Seiner Herrlichkeit des Grafen Dorin- 
court waren nicht leicht zu schildern. Ein gut Stück Welt 
und Menschen aller Art hatte er gesehen und war eben nicht 
leicht zu verblüffen; aber hier trat ihm etwas so Neues und 
Unerhörtes entgegen, daß es ihm fast den Atem benahm und 
die merkwürdigste Erregung in dem alten Edelmanne hervor 
rief. Er hatte sich nie mit Kindern beschäftigt; seine Pas 
sionen und Vergnügungen hatten ihm dazu nie Muße 
gelassen, und seine eignen Jungen waren ihm nie sehr inter 
essant gewesen — höchstens erinnerte er sich dunkel, daß Cedriks 
Vater ein hübscher, kräftiger Knabe gewesen war. Im all 
gemeinen war ihm ein Kmd immer wie ein höchst lästiges 
kleines Tier vorgekommen, gefräßig, egoistisch und lärmend, 
wenn man es nicht in strenger Zucht hielt. Seine beiden 
Aeltesten hatten ihren Erziehern und Lehrern stets Grund zu 
Klagen und Verdruß gegeben, und von dem Jüngsten glaubte 
er nur deswegen weniger Schlinnnes gehört zu haben, weil 
derselbe als solcher für keinen Menschen von Bedeutung war. 
Daß er seinen Enkel lieb gewinnen könnte, war ihm nie in 
den Sinn gekommen — er hatte ihn in sein Haus bringen 
lassen, weil er seinen Namen dereinst nicht durch einen un 
erzogenen Lümmel wollte lächerlich machen lassen und er über 
zeugt war, daß der Junge in Amerika nur ein Halbnarr oder 
ein clownartiges Geschöpf werden konnte. Er hatte an seinen 
Söhnen so viel Demütigungen erlebt und war über Kapitän 
Errols amerikanische Heirat so entrüstet, daß er etwas Er 
freuliches bei seiner Nachkommenschaft nicht mehr vermutete, 
und als der Diener ihm Lord Fauntleroy gemeldet, hatte er 
sich fast gefürchtet, den Jungen anzusehen. Das war auch 
der Grund, weshalb er ihn hatte allein sehen wollen; seinem 
Stolz war der Gedanke eines Zeugen seiner Enttäuschung 
unerträglich. Aber selbst in den Stunden, wo er mit mehr 
Hoffnung in die Zukunft geblickt, hatte er sich nie träumen 
lassen, daß sein Enkel so aussehen könnte, wie die entzückende 
Kindergestalt, die, das Händchen auf dem Kopfe seines etwas 
gefährlichen Lieblings, so zuversichtlich und vertrauensvoll vor 
ihn trat. Diese Ueberraschung brachte den harten alten Mann 
schier um seine Fassung. 
Und dann begann ihre Unterhaltung, in deren Verlauf 
sein Erstaunen sich mehr und mehr steigerte. Erstens einmal
	        
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