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Abhandlung II. § 219. 220.
wäre begründet, wenn es gar keine Tugend gäbe, wenn
das Laster überall deren Stelle einnähme. Herr Bayle
wird sagen, es genüge, dass das Laster herrsche und
dass die Tugend im Vergleich zu ihm nur ein Kleines
sei. Allein ich hüte mich, ihm dies einzuräumen und ich
glaube wirklich, dass, richtig aufgefasst, es unvergleich
lich mehr moralisch Gutes, wie moralisch Schlechtes bei
den vernünftigen Geschöpfen giebt, von denen wir iiber-
dem nur eine geringe Zahl kennen.
220. Auch ist dieses Uebel in den Menschen nicht
so gross, als man Vorgiebt; es giebt nur Leute von
bösem Gemütli oder Leute, die durch das Unglück etwas
Menschenhasser geworden sind, wie der Timon bei
Lucian, welcher überall nur Schlechtigkeit antraf, und
welche die besten Handlungen durch die Art, wie sie
dieselben erklären, vergiften. Ich spreche hier von
solchen, welche dies ganz ernstlich meinen, um daraus
schlechte Folgerungen zu ziehen, von welchen deren
Handlungsweise angesteckt ist; denn Manche thun es
auch nur um ihren Scharfsinn zu zeigen. Man hat dies
bei Tacitus getadelt, und dies ist es auch, was Herr
Descartes (in einem seiner Briefe) gegen das Buch von
Hobbes de Cive (über den Bürger) einzuwenden hat.
man hatte damals nur wenige Exemplare davon gedruckt,
welche an seine Freunde vertheilt werden sollten; die
zweite Ausgabe, die wir besitzen, ist durch Bemerkungen
des Verfassers vermehrt worden. Herr Descartes erkennt
zwar an, dass dieses Buch von einem gescheidten Manne
herrühre, aber er findet doch darin gefährliche Grund
sätze und Lehren, weil alle Menschen darin als schlecht
angenommen werden oder man ihnen einen Grund giebt,
es zu werden. Der verstorbene Herr Jacob Thoraasius
sagt in seinen schönen Tafeln der praktischen Philo
sophie, dass das ttqmtov iptvd'os, der Ursprung der Irr-
thümer dieses Buches des Herrn Hobbes darin liege, dass
er den Statum legalem pro naturali (den gesetzlichen
Zustand für den natürlichen) genommen habe, d. h. dass
der verdorbene Zustand für ihn als Maass und Regel
gelte, während der der menschlichen Natur am meisten
entsprechende Zustand es sei, welchen Aristoteles im
Auge gehabt habe. Denn nach Aristoteles ist das
natürlich, was der vollkommenen Natur einer Sache