versetzt uns dieses Gebot in eine Zeit, in der der fromme Judäer gegen
das Eindringen des ganzen babylonischen Kultus zu kämpfen hatte.
Das ist, wie wir gesehen haben, vornehmlich zur Zeit Mauasses gewesen
(690—640 vor Christus). Demnach muß diese Form der Zehn Gebote
mindestens um ein Jahrhundert jünger sein als die jahwistischen und
clohistischen Gesetze.
In diese Zeit werden wir noch durch eine andere Beobachtung ver-
wiesen.
Das zweite Gebot macht einen Unterschied zwischen denen, die Jahwe
lieb haben und seine Gebote halten, und denen, die ihn hassen. Die
Feinde Jahwes sitzen danach mitten im israelitischen Volke selbst! Nicht
mehr ist Jahwe ohne weiteres der Volksgott, der „Freund deiner Freunde
und der Bedränger deiner Bedränger" (2. Mose 23, 22), wie er sich noch
im Werk des Elohisten selber bezeichnet hat; sondern es ist dein Ent
schluß des einzelnen überlassen, ob er zu denen gehören will, die Jahwe
lieb haben, oder zu denen, die ihn hassen. Und da beide Gruppen als
Gruppen von Familien gedacht werden, die ihre Parteistellung zu Jahwe
ans ihre Kinder vererben, so müssen sie auch im wirklichen Leben tat
sächlich geschieden gewesen sein. Das weist deutlich auf die Gemeinde-
bildung hin, von der wir oben gesprochen haben.
Auch in dieser Zeit noch wirkte die soziale Tendenz nach, die seit
der Schrift des Elohisten die lewitische Bewegung ergriffen hatte. Schon
der Eingangssatz hat ausdrücklich an die Stimniung der Auszng-
geschichte erinnert, indem er Jahwe hervorheben ließ, daß Israel in
Aegypten „im Sklavenhause" gewesen sei. llnd alle jene Gebote vom
lügnerischen Schwur (Gebot 3), vom Töten, Ehebreche», Stehlen und
böswilligen Begehren sowie vom falschen Zeugnis vor Gericht silid als
Nachklänge jener alten sozialen Gebote zic fassen.
Bei dem Satz vom falschen Schwur und vom falschen Zeugnis
braucht die soziale Tendenz nicht näher erwiesen zu werden: sie sind
ja nur Wiederholungen der Gedanken, die in den Gerichtssprüchen des
Elohisten und in den Lernsprüchen (I. 3; II. 4, 8) zum Ausdruck ge
kommen waren; und sie begegnen uns Dutzende von Malen bei den
Propheten, die immer wieder gerade die Unterdrückung des Armen vor
Gericht als den größten Frevel an Jahwe beklagten. Aber auch das
Wort über das Stehlen hat seine Parallele in jenem Lernspruch, der die
Vorenthaltung des Lohnes für den Tagelöhner als Raub und Ueber-
vorteiluug betrachtet (I, 2), oder an jenem anderen, der Stehlen, Lügen,
Betrügen und Faschschwur nebeneinander nennt (11, 4), also ebenfalls
unter Stehlen ein an Armen begangenes Verbrechen des Reichen und
nicht das Umgekehrte versteht.
Und wenn man das zehnte Gebot liest vom bösen Begehren, so
denkt der Kenner des Alten Testaments dabei wahrhaftig nicht daran,
daß damit etwa die „Begehrlichkeit" des Armen getroffen werden sollte;
vielmehr erinnert er sich an Geschichten wie die von Rabats Weinberg
oder von David und dem Weib des Urin oder an das Gleichnis von dem
Manne, der 99 Schafe hatte, und nahm doch dem Armen sein Schaf ab,
der nur eines besaß! Diese Geschichten stammen aus denselben Kreisen,
die jenes zehnte Gebot vorn Begehren gebildet haben, und lehren uns
somit den sozialen Sinn gerade dieses Gebotes verstehen. Hat doch auch
der Prophet Jesaja seinen Fluch geschleudert gegen diejenigen, „die
Haus an Haus rücken und Feld an Feld reihen, bis kein Raum mehr
ist, und ihr allein Bürgerrecht im Lande genießt" (Jesaja 5, 8). Da
ist das „Begehren nach dem Haus des Nächster:" drastisch geschildert: es