Natürlich kehre» auch die alte» Forderungen wieder, die die stehende
Melodie der lewitischen Programme ausgemacht haben: gerechtes Gericht,
richtige Wage, richtiges Maß und richtiges Geld. Auch das Verbot,
den Acker oder bcn Weinberg bis zum lebte» Rest abzuernten, findet
sich wieder, das wir schon aus einem der Lernsprüche kennen. Neu,
aber in derselben Richtung weitergedacht, ist die Bestimmung, daß inan
vom Feld oder Weinberg eines anderen essen darf, so viel der augen
blickliche Hunger erfordert; nur mitnehmen darf inan nichts. Eigen
artig, weil ein gutes Licht auf die wirklichen Zustände werfend, ist
der kurze Satz: „Verrücke die Grenze deines Nächsten nicht, die die
Vorfahren abgesteckt haben, in deinem Erbe, das dn bekommst" (19, 14).
Die Flurcinteilung der alten Zeit wird durch die Großgrundbesitzer
bedroht, die mit List oder Gewalt die Aecker der anderen zu schmälern
trachten.
So ist die Absicht unverkennbar, überall die Partei des Armen
und Verschuldeten zu nehmen. Trotzdem ist auch dieses Gesetz, eben
sowenig wie die Sozialprogramme der Lewiten, kein organisches Pro
gramm zur Abänderung der gesellschaftlichen Zustände zugunsten der
Armen, keine durchgreifende Sozialreform, wie sie ein Menschenalter
später dir solonische Gesetzgebung in Athen durchgeführt hat, und wie.
sie ank dem Boden, der griechisch-römischen Welt so oft wiederholt
wurde. Es sind vielmehr zum größten Teil wohlmeinende,, aber völlig
utopische Sätze, deren praktische Wirkung, wie wir beim Erlaßjahr
sahen, eher das Gegenteil von dem werden mußte, was man be
zweckte. Sie greifen in keinem einzigen Falle an dir Wurzel des
Uebels, an die ungleiche Verteilung des Grundbesitzes und die Härte
des Schuldrechtes. Vor allem aber, sie kennen immer wieder nur den
Appell an das Gewissen und nicht ein einziges Mal den Appell an den
Staat, daß er durch seine Zwangsgewnlt den Unterdrückten beschütze.
Strafvorschriften für Uebrrtretung dieser Gebote fehlen ganz. Immer
ist es nur der Frömmigkeit der Reichen anheimgestellt, ob sie den
frommen Wünschen dieses Gesetzbuchs nachkommen wollen; man weiß
aber zur Genüge, was soziale Gesetze bedeuten, hinter denen nicht die
eiserne Strafgewalt des Staates steht!
Dieses Fehlen von Strafbestimmungen bei den sozialen Gesetzen
ist um so merkwürdiger, als der Gesetzgeber bei anderen Bestimmungen
sehr wohl den Weg zum Richter zu finden weiß. Wer zur Anbetung
anderer Götter anreizen will, soll gesteinigt werden; auch wer einen
anderen vor Gericht fälschlich dieser Sünde beschuldigt, soll dasselbe
Urteil erdulden. Wer als Sohn sich gegen Vater und Mutter erhebt,
wer als Mädchen bei der Verheiratung sich nicht mehr als Jungfrau
erweist, wer mit einer Verheirateten oder Verlobten die Ehe bricht:
alle sollen gesteinigt werden! Beim Kultus und bei der Jungfräulichkeit
also haben diese Priester sehr wohl verstanden, ihre Gesetze mit juristisch
faßbaren Strafbestimmungen zu schützen. Nur bei den sozialen Gesetzen
blieb es beim Appell an das gute Herz der Reichen. Der demagogische
Charakter dieses Gesetzbuches, den wir schon in der Einleitung feststellen
konnten, zeigt sich also auch in den sozialen Gesetzen selbst.
Der wirkliche Zweck des Vorstoßes war eben nicht die Verbesserung
der Lage der unteren .Klassen, sondern die Monopolstellung der Jerusa
lemer Priester. Sie brauchten die sozialen Programmforderungen bloß,
um an dem Unmut der Armen eine Waffe für ihre eigenen Kämpfe
zu finden.
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