Full text: Das sogenannte Gesetz des Mose (5)

Natürlich kehre» auch die alte» Forderungen wieder, die die stehende 
Melodie der lewitischen Programme ausgemacht haben: gerechtes Gericht, 
richtige Wage, richtiges Maß und richtiges Geld. Auch das Verbot, 
den Acker oder bcn Weinberg bis zum lebte» Rest abzuernten, findet 
sich wieder, das wir schon aus einem der Lernsprüche kennen. Neu, 
aber in derselben Richtung weitergedacht, ist die Bestimmung, daß inan 
vom Feld oder Weinberg eines anderen essen darf, so viel der augen 
blickliche Hunger erfordert; nur mitnehmen darf inan nichts. Eigen 
artig, weil ein gutes Licht auf die wirklichen Zustände werfend, ist 
der kurze Satz: „Verrücke die Grenze deines Nächsten nicht, die die 
Vorfahren abgesteckt haben, in deinem Erbe, das dn bekommst" (19, 14). 
Die Flurcinteilung der alten Zeit wird durch die Großgrundbesitzer 
bedroht, die mit List oder Gewalt die Aecker der anderen zu schmälern 
trachten. 
So ist die Absicht unverkennbar, überall die Partei des Armen 
und Verschuldeten zu nehmen. Trotzdem ist auch dieses Gesetz, eben 
sowenig wie die Sozialprogramme der Lewiten, kein organisches Pro 
gramm zur Abänderung der gesellschaftlichen Zustände zugunsten der 
Armen, keine durchgreifende Sozialreform, wie sie ein Menschenalter 
später dir solonische Gesetzgebung in Athen durchgeführt hat, und wie. 
sie ank dem Boden, der griechisch-römischen Welt so oft wiederholt 
wurde. Es sind vielmehr zum größten Teil wohlmeinende,, aber völlig 
utopische Sätze, deren praktische Wirkung, wie wir beim Erlaßjahr 
sahen, eher das Gegenteil von dem werden mußte, was man be 
zweckte. Sie greifen in keinem einzigen Falle an dir Wurzel des 
Uebels, an die ungleiche Verteilung des Grundbesitzes und die Härte 
des Schuldrechtes. Vor allem aber, sie kennen immer wieder nur den 
Appell an das Gewissen und nicht ein einziges Mal den Appell an den 
Staat, daß er durch seine Zwangsgewnlt den Unterdrückten beschütze. 
Strafvorschriften für Uebrrtretung dieser Gebote fehlen ganz. Immer 
ist es nur der Frömmigkeit der Reichen anheimgestellt, ob sie den 
frommen Wünschen dieses Gesetzbuchs nachkommen wollen; man weiß 
aber zur Genüge, was soziale Gesetze bedeuten, hinter denen nicht die 
eiserne Strafgewalt des Staates steht! 
Dieses Fehlen von Strafbestimmungen bei den sozialen Gesetzen 
ist um so merkwürdiger, als der Gesetzgeber bei anderen Bestimmungen 
sehr wohl den Weg zum Richter zu finden weiß. Wer zur Anbetung 
anderer Götter anreizen will, soll gesteinigt werden; auch wer einen 
anderen vor Gericht fälschlich dieser Sünde beschuldigt, soll dasselbe 
Urteil erdulden. Wer als Sohn sich gegen Vater und Mutter erhebt, 
wer als Mädchen bei der Verheiratung sich nicht mehr als Jungfrau 
erweist, wer mit einer Verheirateten oder Verlobten die Ehe bricht: 
alle sollen gesteinigt werden! Beim Kultus und bei der Jungfräulichkeit 
also haben diese Priester sehr wohl verstanden, ihre Gesetze mit juristisch 
faßbaren Strafbestimmungen zu schützen. Nur bei den sozialen Gesetzen 
blieb es beim Appell an das gute Herz der Reichen. Der demagogische 
Charakter dieses Gesetzbuches, den wir schon in der Einleitung feststellen 
konnten, zeigt sich also auch in den sozialen Gesetzen selbst. 
Der wirkliche Zweck des Vorstoßes war eben nicht die Verbesserung 
der Lage der unteren .Klassen, sondern die Monopolstellung der Jerusa 
lemer Priester. Sie brauchten die sozialen Programmforderungen bloß, 
um an dem Unmut der Armen eine Waffe für ihre eigenen Kämpfe 
zu finden. 
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