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War es diesem ganzen ersten Abschnitt mosaischer „Gesetze" ge
meinsam eigeutünUich, daß sie nur Programme und nicht im juristischen
Sinne Gesetze enthielten, und war damit von selbst gegeben, daß wir
sie nur sehr annäherungs- und schätzungsweise datieren können, so
haben die beiden anderen Abschnitte das gemein, daß sie wirkliche Gesetze
waren, die in einem bestimmten Moment publiziert wurden und Rechts
kraft erhielten. Daher vermochten wir für sie jeweils eine bestimmte
Jahreszahl und auch einen Verfasser zu nennen. Sie zeigen beide,
wie die Lewiten durch die Jerusalemer Priester verdrängt wurden, und
wie diese Priester für sich allein den ganzen Ertrag der mehr als zwei
Jahrhunderte dauernden Bewegung monopolisierten. Das Tempelgesetz
von 623 begründete die alleinige Autorität dieser hauptstädtischen
Priester. Das Gesetzbuch des Esra zeigt, daß sie auch in der opferlosen
Zeit des babylonischen Lebens verstanden hatten, sich an der Spitze
zu halten und die religiöse Sehnsucht der Laien derart zu lenken, daß
diese ihnen schließlich zur Errichtung ihrer endgültigen Herrschaft über
den jüdischen Glauben und Kultus half. Als jene 'Volksversammlung
in Jerusaleni im Herbst 445 vor Christus die Annahme des Gesetzbuches
des Esra beschloß, war die Entwickelung beendet, die dieses Gesetzbuch
und mit ihm die Gestalt des Mose durchgemacht hatte. Sachlich neues ist
weder dem Buch noch dein Mann, dessen Namen es trug, hinzugefügt
worden. Was nun noch kam, war lediglich literarische und redaktionelle
Arbeit. Die „mosaische" Religion stand seit 445 fest.
So ist das Gesetzbuch des Mose in einem Prozeß von rund einem
halben Jahrtausend entstanden, und es hat darüber hinaus vielleicht
noch ein Jahrhundert gedauert, bis es in seiner heutigen Form
-> redigiert lind zusammengeschrieben war. Es ist ein Produkt der großen
Bewegung, durch die aus der israelitischen Religion das Judentum
ward; aus den Einzelheiten seiner Entstehung kann inan daher die
großen Linien und Absätze ablese», in denen diese umschaffende Be
wegung selbst verlief. Aber es enthüllt uns inimer erst den äußeren
Gang dieser Entwickelung. Tie innersten Triebkräfte, aus denen die
neue Religion entstand, lernen wir erst verstehen, wenn wir uns von
diesem Gesetz des Mose fort zu den Propheten wenden, die neben
und vor den Priestern die Träger der neuen Bewegung waren. Die
Besprechung der prophetischen Schriften wird daher unsere nächste Auf
gabe sein. Sie läßt sich aber sehr leicht mit einer allgemeinen Skizze
der Entwickelung der israelitischen Religion verbinden, die das, ivaS wir
bisher bei den einzelnen biblischen Geschichten einzeln gefunden und fest
gestellt haben, nun in eine einheitliche Reihe zusammenstellt. Erst im
Rahmen einer solchen entwickelnden Darstellung kann die geschichtliche
Bedeutung der großen Propheten ins richtige Licht gerückt werden.
jsr
Biblische Geschichten. V
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