Full text: Die Propheten (6)

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Aber der Dichter dieses Romans hat die Kunst, die er tu der Schule, 
altisraelitischer Hof-Historiker gelernt hat, in den Dienst der neuen 
Gedanken der unteren Klassen gestellt und damit sowohl jene Kunst 
wie auch diese Gedanken weit über sich selbst hinausgehoben. Lein 
Joseph ist für die ganze Weltliteratur der Vertreter des stummen 
Duldens und des belohnten Vertrauens geworden. Hier zum ersten 
Male tritt, wenn auch noch nicht im Wort, so doch schon in der Sache 
der Begriff des Glaubens oder des Gottvcrtrauens hervor. Joseph tut 
selbst nichts, sein armseliges Los zu. wenden, aber er ist gehorsam, 
fleißig, beliebt bei allen Vorgesetzten und wartet, bis Jahwe sein 
Schicksal zum Besseren führt. Und gerade der wartende Gehorsam wird 
durch Jahwes Segen überreichlich belohnt. Hier hat die Religion 
völlig aufgehört, Kultus, Opfer, Sitte und Brauch zu fein. Hier ist 
sie, von allem Aeußeren losgelöst, ein inneres Leben geworden, eine 
ständige Stimmung, ein Gefühl, das das ganze alltägliche Leben be 
herrscht und unter einen höheren, unHassenderen Gesichtspunkt stellt. 
Dieser Joseph bringt keine Opfer, besucht keinen Altar, betet kaum 
ausdrücklich; aber auch im fremden Land und unter fremden Göttern 
weih er es nicht anders, ist es ihm selbstverständlicher Instinkt, daß 
er Jahwe treu ist und auf Jahwes Schutz wartet. 
Es ist eine Tatsache von unermeßlicher Bedeutung, daß im Rahmen 
der israelitischen Religionsentwickelung die unteren Klassen es waren, 
die diese Wendung der Religion vom Kultus zum inneren Leben zum 
ersten Male erlebt haben. In anderen Religionen mag es teilweise 
anders gewesen sein. Hier aber, wo diese Wendung die größte welt 
geschichtliche Bedeutung gewann, liegt es klar auf der Hand, daß die 
Gefühle der unteren Klaffen zu ihr geführt haben. Die Not des Lebens, 
die immer ärger ivard, schuf als Ideal das Bild des Sklaven, der zur 
höchsten Ehre gelangt. Keine herrschende Klasse würde je ihren Ltainm- 
vater und Ahnherrn in dieser Rolle gedacht, würde den altioraelitischen 
Recken, dessen Grab eine Kultusstätte bei Sicheiu war, in den duldenden 
Jüngling umzudichten vermocht haben, der stumm alles Elend und alle 
Gewalttat erträgt. Die große Wendung der Religion, die in dieser llm- 
denkung liegt, ist der Ertrag, den die Not und die Opposition dieser 
unteren Klassen für die Weltgeschichte gehabt hat. 
Man kann durchaus auf dem Standpunkt stehen, daß diese 
Frönimigkeit des stillen Vertrauens nicht für alle Zeit den Gipfel der 
Religionsgeschichte bedeutet. ES ist die Stimmung, aus der die Un 
tätigkeit, die Zufriedenheit auch mit der niedrigsten Lage, die Abkehr 
von aller positiven Kulturarbeit entsprang. Trotzdem bleibt bestehen, 
daß sie für ihre Zeit und für diese Kreise ein unermeßlicher Fortschritt 
war. Es gab einfach kein positives Programm, das ihnen Besserung 
ihrer Lage hätte verschaffen können. Die Parole der Rekabiten war 
eine Utopie, der wohl einzelne folgen konnten, die für die Masse aber 
nichts vermochte. Die Revolution des Jehu hat ebenfalls nichts genützt: 
sie hat eine neue Dynastie an die Stelle einer alten gesetzt; alle sozialen 
Zustände, alle Not durch Beamte, Steuern, Verschuldung und äußere 
Kriege hat sie unangetastet bestehen lassen. Ja, es kamen sogar gerade 
jetzt einige Jahrzehnte stärkster Gefahr und völliger Ausplünderung 
durch die siegreichen Könige von Damaskus. Was sollte man noch be 
ginnen, wenn selbst die Revolution so ganz in ihr Gegenteil umgeschlagen 
war! Der leidende Gehorsam, das stille Dulden, Hoffen und Ver 
trauen auf Jahwe war das einzige Mittel, diese zermürbten Armen vor 
gänzlicher Verzweiflung zu schützen. Wenn keine irdische Hilfe möglich
	        
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