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Verweisung mit einem neuen Fluch und einer Bekräftigung dessen, was
er vorher gesagt hatte: „Israel wird doch in die Verbannung müssen,
fort aus feinern Lande." (Arnos i, 9—1.7.)
Es scheint, das; Ainos der Drohung des Priesters gefolgt ist.
Weitere Szenen öffentlichen Auftretens hören wir von ihm nicht. Aber
er hat den Kampf darnnr nicht arrfgegeben. Was er nicht sagen konnte,
hat er geschrieben: sowohl die Sprüche und Lieder hat er nieder
geschrieben, die er in die Festversanimlung von Bethel geschlendert hatte,
als auch neue, die er erst später entwarf. Es sind lauter kurze, in sich
selbständige Stücke: das längste füllt kaum zwei Seiten im heutigen
hebräischen Tert. Offenbar sind es ursprünglich einzelne Blätter ge
wesen, Flugschriften, Pamphlete, die ins Volk gingen von Hand 31t
Hand und von Mund zu Mund. Was wir heute als das Buch des
Ainos lesen, ist nur eine vielleicht um Jahrhunderte spätere und nicht
immer gute Zusammenstellung solch einzelner Lieder und Sprüche. Was
der Prophet selbst schrieb, war kein Buch, fcin rein literarisches Pro
dukt mit literarischer Wirkung: es war aktueller Kampf, persönliche Tat,
ebenso wie die Worte, die er vorher Auge in Auge zu Volk und Be
amten gesprochen hatte.
Der Mann, der diesen Kampf führte, war Judaer von Herkunft:
er stammte ans Thekoa, einem judäischen Ort etwa zwei Stunden südlich
von Bethlehem, tut Gebirge. (Ainos 1, 1.) Er verdiente sein Brot als
Hirt und indem er hernmgiug und an den Maulbeerfeigen eine Ein-
ritzung vornahm, die zum Reifen der Frucht nötig war. Er war nicht
Besitzer, sondern Tagelöhner in anderer Leute Brot. Es ist das drikte-
inal, daß wir einen Mann ans der Hirtengegend als Wortführer der
proletarisierten Kleiiibaueru in Israel finden.
Denn das ist Amos gewesen, größer, schneidender, wuchtiger als
irgendeiner vor oder nach ihm. Ihn packte hinter der Herde hie jähe
Wut und zwang ihn, gegen das Volk der sozialen Bedrückung den Fluch
seines Gottes zu schleudern. Aber nicht nur in einem einzelnen Fall,
wie einst bei Elia, und gegen einen einzelnen Mann! Das Neue, die
furchtbare Jahwe-Offenbarung, die Amos in sich brennen fühlte, war
die Verfluchung des ganzen Volkes: der König soll fallen, das Volk soll
aus dein Lande vertrieben, die Heiligtümer Jahwes selbst sollen ge
schändet werden! Volk, Staat und Religion sollen gleichzeitig ihr
Ende finden. Jahwe selbst verwirft sein Volk: er will nicht mehr Gott
Israels heißen. Israel soll von seinem Angesichte verstoßen sein. Im
Namen Jahwes, des uralten Volksgottes, wird die Vernichtung des
Volkes verkündet. Die Leute, aus denen Jahwe so spricht, sind Feinde
des Volkes, Verächter der angeborenen Nation geworden. Sie jubeln
über den Untergang des eigenen Volkes. Nation und Religion haben
sich bei ihnen gänzlich getrennt. Ihre Religion ist antinational, vater
landsfeindlich, reichsfeindlich geworden.
Der Anstoß zu diesem furchtbaren Ausbruch der proletarischen
Opposition war durch das Hervorbrechen der assyrischen Weltmacht ge
geben. Seit ungefähr dreißig bis vierzig Jahren drängten sie vom
Euphrat her dem Mittelmeer zu. Tie Aramäer von Damaskus hatten
sie schon um die Wende des neunten zum achten Jahrhundert mehrfach
besiegt. Schon mehrfach hatten sie die Methode befolgt, gar zu wider
spenstige Völker schließlich ans ihrer Heimat fort in andere Länder zu
verpflanzen, um sie unschädlich zu machen. Das ist es, was Amos auch
für Israel kommen sieht: „Ich lasse wider euch ein Volk ausstehen, das
lvird euch bedrängen vom Norden bis zum äußersten Süden, ist Jahwes