Das Unheil, von dem er seit Fahren geredet, naht wirklich heran.
Tie Könige von Israel und Damaskus haben sich gegen Inda ver
bündet. Mit erstickender Uebermacht brechen sie in das kleine Land ein.
Eine Palastrevolution im Innern scheint ihnen zu Hilfe zu kommen.
Ter König tut in der höchsten Not, was Pflicht und Klugheit ihm ge
bieten: er stellt sich unter den Schutz der Assyrer und zieht gegen
Tribut ihre Hilfe heran.
In diesen wild-erregten Tagen erlebte Jesaja die erste echt-
prophetische Uebcrwältignng durch einen neuen Gedanken. Er sagt selbst,
daß eine unsichtbare Hand ihn gepackt hielt und ihn zurechtwies, nicht
zu gehen auf dem Wege dieses Volkes da (8, 11): Jahwe werde die
beiden feindlichen Könige selber zerschmettern, Jahwe allein, ohne mensch
liche Hilfe. Diesen neuen, mit körperlicher Wucht ihn überfallenden
Gedanken hat Jcsasa dann Auge in Auge dem König gegenüber ver
treten — natürlich ohne Erfolg! Der König hielt die wild-übcr-
sthwenunenden Wogen des Euphrat für stärker als die. sacht-sprndeln-
den Wasser der Tempelgnelle siloa (8, 8) und rettete durch Unter
werfung unter die Assyrer Krone und Leben.
Für Jesaja war das die Stunde, in der seine Weissagung eine
grundsätzliche Aenderung erfuhr. Tod und Vernichtung waren ihm bis
dahin dogmatische Gedanken gewesen, die er den Vorgängern entnommen
und dichterisch verwendet hatte. Jetzt zum ersten Male war der furchtbare
Ernst der Wirklichkeit vor den Propheten getreten. Und Jesaja hatte
nicht die Kraft, mit der Unerbittlichkeit eines Amos zu sagen: Jetzt ist
das Ende da! Sei es, daß ein Rest von Vaterland- und Heimat-
gefühl ihn zurückhielt, sei es, daß Israel und Damaskus ihm doch als
gar zu erbärmliche Werkzeuge für Jahwes Weltkatastrophe erschienen:
er datiert den Untergang auf eine spätere Zeit und sagt: jetzt kommt er
noch nicht!
Aber er blieb doch ganz in der Gedankenwelt seiner Vorgänger
hängen, wenn er das eine Dogma durch das andere ersetzte, daß Jahwe
seinem Volke jede menschlich-natürliche, diplomatische oder politische
Schutzmaßregel verbiete. Der Glaube allein soll es machen. Ter
Glaube — hier begegnet zu in ersten Male auch das Wort, das von nun
an das Kennwort der mit dein Uebernatürlichcn rechnenden Religion
werden sollte: „Glaubet ihr nicht, so bleibet ihr nicht!" (7, 9.) Erschreckt
von der furchtbaren Wirklichkeit der Gefahr flieht diese Religion nur
immer tiefer in phantastische Illusionen hinein. Die Posaunen voir
Jericho werdeii grundsätzlich das Vorbild uiid die Richtschnur auch für
die Politik.
Natürlich konnte ein verantwortlicher Staatslenker und Feldherr
nach dieser Religion nicht handeln, weder damals noch irgendwann in
der Welt. Kehrte die Religion dieser Propheten sich ab von allen
natürlichen Bedingungen des wirklichen menschlichen Lebens, so mußten
auch die, die im wirklichen Leben standen, den Forderungen dieser
Religion immer von neuem widersprechen. Jesaja konnte von seinem
Standpunkt aus diesen Widerspruch nicht anders wie als Unglauben
nnd Abfall verstehen. Aber was ihn am furchtbarsten traf, das war die
Erkenntnis, daß der König recht hatte, und daß er gerade durch seinen
„Abfall" von Jahwe Tempel nnd Ltadt vor den Feinden gerettet hatte.
Mußte das nicht die ganze Gelbstsicherheit des Jesaja erschüttern?
Er hat sich mit dem Gedanken getröstet, daß Jahwe sein Angesichl
verborgen habe, und daß deshalb Strafe für den Abfall und Recht
fertigung des Propheten der Zukunft anheimgestellt werden müßten.