stehung und Wesen der jüdisch-christlichen Rcligionslegende zu enthüllen
und eine Darstellung des wirklichen, erweislich wahren Herganges an
ihre Stelle zu setzen.
Wir haben aber dazu nicht den scheinbar einfacheren Weg gewählt,
dem Leser das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung einfach zu erzählen.
Das würde nur zu einem neuen Dogma führen, das der wissenschaftlich
nicht vorgebildete Leser wieder nur eben annehmen und für wahr halten
müßte. Wir aber wollten ihm bei jedeni einzelnen Ergebnis auch die
Gründe zeigen, aus denen man gezwungen war, es anzunehmen. Der
Leser sollte von dem Gefühl beherrscht werden, daß hier nicht Phan
tastereien und willkürliche Annahmen einzelner Forscher vorliegen,
sondern daß in den Quellenschriften der jüdisch-christlichen Religions
lehre selbst die zwingenden Gründe vorliegen, die Dinge so und nicht
anders geschehen zu denken. Jede geschichtliche Untersuchung, wenn sie
echt ist, ist ein gehorsames Sichbeugen vor dem Zwange, der in den
Dingen selbst liegt, die man bearbeitet. Wir phantasieren uns nicht
eine beliebige Entwickelung zusammen, sondern wir folgen nur den
Fingerzeigen, die die Wirklichkeit, der wirkliche, noch heute wahrnehm
bare Zustand der jüdisch-christlichen Literatur uns gibt.
Um dem Leser eine Anschauung von diesem wirklichen Zustand zu
geben und ihm damit das Gefühl zu stärken, daß es sich bei unserer Dar
stellung um gesicherte und erweisliche Tatsachen, nicht um willkürliche
Annahmen handelt, haben wir der einzelnen Untersuchung jeweils einen
Kreis in sich zusammengehöriger biblischer Geschichten zugrunde gelegt.
Wir gehen jedesmal aus vou der Gestalt, in der sie heute in der Bibel
stehen, und suchen aus ihr selbst heraus die Fingerzeige zu finden, die
noch ihr heutiger Text über Entstehung, Entwickelung und Wandlung
dieser einzelnen Geschichten bietet. Wir erhalten somit jedesmal einen
Längsschnitt durch die ganze Entwickelung der israelitisch-jüdischen
Religion, einen Längsschnitt, der einmal hier, einmal dort seine breiteste
Ausführung hat. Wiederholungen sind dabei gelegentlich nicht zu ver-
ineiden. Aber sie dienen ja nur zur Befestigung des Grundrisses der
ganzen Entwickelung, und, was sie Mißliches haben könnten, wird weit
ausgewogen durch den Vorteil, daß diese Art der Darstellung, und sie
allein, dem Leser die Möglichkeit gibt, den Gang solch geschichtlicher
Untersuchungen selbst nachzuerleben und damit nicht nur die Ergebnisse,
sondern auch die Methode des Arbeitens begreifen und beurteilen zu
lernen. Wer diese unsere Darstellung aufmerksam liest, soll, das ist
unsere Hoffnung, dadurch befähigt werden, fortan in der unübersehbaren
Menge populärer Literatur über Religion und Religionsgeschichte die
Spreu vom Weizen selbst scheiden zu können.
Die Religionsgeschichte zeigt, wie alle andere menschliche Geschichte
auch, ein Ineinander und Beieinander von edlen, erhebenden und großen
Gefühlen und von kleinlicher Selbstsucht, Herrschsucht und Neid. Die
Religion ist nicht nur eine plumpe Täuschung der Massen durch hab-
gierige Priester, und sie ist nicht nur ein Necken und Strecken der
Menschen nach edlerem, höherem Leben. Sie ist beides zugleich! Es
wird ein besonderes Ziel der folgenden Darstellung sein, an gegebener