Full text: Die Propheten (6)

stehung und Wesen der jüdisch-christlichen Rcligionslegende zu enthüllen 
und eine Darstellung des wirklichen, erweislich wahren Herganges an 
ihre Stelle zu setzen. 
Wir haben aber dazu nicht den scheinbar einfacheren Weg gewählt, 
dem Leser das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung einfach zu erzählen. 
Das würde nur zu einem neuen Dogma führen, das der wissenschaftlich 
nicht vorgebildete Leser wieder nur eben annehmen und für wahr halten 
müßte. Wir aber wollten ihm bei jedeni einzelnen Ergebnis auch die 
Gründe zeigen, aus denen man gezwungen war, es anzunehmen. Der 
Leser sollte von dem Gefühl beherrscht werden, daß hier nicht Phan 
tastereien und willkürliche Annahmen einzelner Forscher vorliegen, 
sondern daß in den Quellenschriften der jüdisch-christlichen Religions 
lehre selbst die zwingenden Gründe vorliegen, die Dinge so und nicht 
anders geschehen zu denken. Jede geschichtliche Untersuchung, wenn sie 
echt ist, ist ein gehorsames Sichbeugen vor dem Zwange, der in den 
Dingen selbst liegt, die man bearbeitet. Wir phantasieren uns nicht 
eine beliebige Entwickelung zusammen, sondern wir folgen nur den 
Fingerzeigen, die die Wirklichkeit, der wirkliche, noch heute wahrnehm 
bare Zustand der jüdisch-christlichen Literatur uns gibt. 
Um dem Leser eine Anschauung von diesem wirklichen Zustand zu 
geben und ihm damit das Gefühl zu stärken, daß es sich bei unserer Dar 
stellung um gesicherte und erweisliche Tatsachen, nicht um willkürliche 
Annahmen handelt, haben wir der einzelnen Untersuchung jeweils einen 
Kreis in sich zusammengehöriger biblischer Geschichten zugrunde gelegt. 
Wir gehen jedesmal aus vou der Gestalt, in der sie heute in der Bibel 
stehen, und suchen aus ihr selbst heraus die Fingerzeige zu finden, die 
noch ihr heutiger Text über Entstehung, Entwickelung und Wandlung 
dieser einzelnen Geschichten bietet. Wir erhalten somit jedesmal einen 
Längsschnitt durch die ganze Entwickelung der israelitisch-jüdischen 
Religion, einen Längsschnitt, der einmal hier, einmal dort seine breiteste 
Ausführung hat. Wiederholungen sind dabei gelegentlich nicht zu ver- 
ineiden. Aber sie dienen ja nur zur Befestigung des Grundrisses der 
ganzen Entwickelung, und, was sie Mißliches haben könnten, wird weit 
ausgewogen durch den Vorteil, daß diese Art der Darstellung, und sie 
allein, dem Leser die Möglichkeit gibt, den Gang solch geschichtlicher 
Untersuchungen selbst nachzuerleben und damit nicht nur die Ergebnisse, 
sondern auch die Methode des Arbeitens begreifen und beurteilen zu 
lernen. Wer diese unsere Darstellung aufmerksam liest, soll, das ist 
unsere Hoffnung, dadurch befähigt werden, fortan in der unübersehbaren 
Menge populärer Literatur über Religion und Religionsgeschichte die 
Spreu vom Weizen selbst scheiden zu können. 
Die Religionsgeschichte zeigt, wie alle andere menschliche Geschichte 
auch, ein Ineinander und Beieinander von edlen, erhebenden und großen 
Gefühlen und von kleinlicher Selbstsucht, Herrschsucht und Neid. Die 
Religion ist nicht nur eine plumpe Täuschung der Massen durch hab- 
gierige Priester, und sie ist nicht nur ein Necken und Strecken der 
Menschen nach edlerem, höherem Leben. Sie ist beides zugleich! Es 
wird ein besonderes Ziel der folgenden Darstellung sein, an gegebener
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.