Full text: Der Umsturz im Reichstag

wenden, verhandelt Ivucde, ergab eine namentliche Abstimmung sofort wieder, 
daß kein beschlußfähiges Haus zur Stelle war. 
Die Mehrheit hatte es eben nicht sehr eilig. Die nicht mehr verhüllten 
Vcrstündigungsvcrhandlungcn nahmen ihren Fortgang. Das Zentrum räumte 
ihnen sorglich alle Steine aus dem Wege, unjd wenn cs die eigenen Anträge 
waren. Die Aufhebung der städtischen Abgaben auf Lebensmittel wurde auf 
Wunsch der Regierung auf den ersten April — 1010 verschoben. Von der 
Bettelsuppe der Wittwen-Versorgung wurden die letzten Fettaugen abgeschöpft 
— wieder auf Wunsch der Regierung. Und auf Wunsch der Regierung wurde 
ihr überlassen, wann sic das ganze Zollgcsetz in Kraft treten lassen wolle. 
So war man denn am Ende der Sitzung vom Mittwoch, den 26. November, 
mit sämmtlichen zwölf Paragraphen des Tarifgesetzes fertig geworden mit ein 
ziger Ausnahme jenes ersten Absatzes des 8 1, der nach der schon erwähnten 
Erklärung des Präsidenten Bnllcstrem erst nach Beendigung der ganzen Tarif- 
berathung herankommen sollte. Am Donnerstag sollte nunmehr mit den Posi 
tionen des Tarifs, mit der eigentlichen Berathung der Zollsätze begonnen werden. 
Der Beginn dieser Sitzung wurde sehr im Gegensatz zu dem Brauch der letzten 
Wochen auf 2 Uhr festgesetzt. 
Im Laufe der Mittwochsitzung verließen die Zentrumsführer Spahn und 
Gröber mit dicken Aktenbündeln den Sitzungssaal, um sich nach den Zimmern 
des Vundesraths zu begeben. Als sie an den sozialdemokratischen Bänken vorbei 
kamen, wurde ihnen zugerufen: „Da gehen sie wieder mogelnI" Der Reichs- 
gerichtsrath Spahn verbeugte sich lächelnd: er konnte die Thatsache ja auch nicht 
ableugnen. 
Jn> eben derselben Sitzung hatte ein anderer Zentrumsführer, Herr 
Dr. Bachem, gemeint: „Allzn große Gründlichkeit ist der Tod jedes Erfolges." 
Der nächste Tag schon sollte zeigen, wie die Mehrheit ihren Erfolg vor der Gefahr 
„allzu großer Gründlichkeit" zu retten gedachte. 
Ar ümftiM skr Geschäftsordnung uns! die Gewaltherrschaft 
der Mehrheit. 
Am 27. November, einem Donnerstag, Nachmittag um 2 Uhr, über 
raschte gleich nach Beginn der Sitzung der Abgeordnete v. Kardorff 
die Linke und die Tribünen mit der Ankündigung, daß in wenigen 
Minuten dem Hause ein Antrag zugehen werde, des Inhalts, 
im § 1 der Gesetzesvorlage die en bloc - Annahme des Zolltarifs auszusprechcn. 
Das höhnische Gelächter, das bei dieser Ankündigung auf der Linken erscholl, 
hatte seinen guten Grund. Der -§ 19 der Geschäfts-Ordnung verbietet mit aller 
nur wünschenswerthen Klarheit jede en bloc - Annahme eines Gesetzentwurfes, 
wenn auch nur ein einziges Mitglied des Hauses widerspricht. 
Nach einer längeren Pause wurde der Antrag schriftlich dem Präsidenten 
überreicht. Er lautete: 
Der Reichstag wolle beschließen, für den Fall der Annahme des Absatzes 1 
des Paragraphen 1 des Entwurfs eines Zolltarifgeseßes, denselben wie folgt zu 
fassen,: „Bei der Einfuhr von Waaren in das deutsche Zollgebiet werden. .. 
Zölle nach Maßgabe der dem Reichstage am 0. Oktober 1902 vorgelegten end- 
giltigcn Beschlüsse der XVI. Kommission erhoben." 
Der Antrag machte indessen Ausnahmen zu Gunsten einer Anzahl Posi 
tiven, enthaltend landwirthschaftliche Geräthe und Gegenstände, bei denen die
	        
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