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Es blieben vMäufig in der Reserve die Oberagrärier, die den Antrag nicht
mitunterzeichnet hatten, aber sich bald an allen Vergewaltigungen der Minderheit
mit Wollust betheiligen sollten, sowie Graf Ballestrem, der von dem Antrag
nichts gewußt zu haben erklärte und von „sehr gewichtigen Bedenken" sprach, die
sich bei ihm eingestellt hätten. Die Bedenken waren aber leider nicht stark
genug, um ihn zu dem zu bewegen, was seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit
gewesen wäre, den geschäftsordnungswidrigen Antrag kurzer Hand abzuweisen
und lieber sein Amt niederzulegen, als auf Befehl der Mehrheit das Recht zu
beugen. Diese seine Unterlassungssünde, die wohl mehr als bloße Unterlassungs
sünde war, gab Anlaß zu der längsten und stürmischsten Geschäfts-Ordnungs-
Debatte, die der Deutsche Reichstag seit seinem Bestehen erlebt hat. Singer und
Barth, denen sich diesmal auch Richter nothgedrungen anschließen mußte, ver
langten Vertagung der Berathung. Da erhob sich Herr Bassermanu, einstmals
Theilnehmer an der lex Heinge-Obstruktion, und warf der Minderheit das
Almosen einer armseligen Stunde hin: auf so lange schlug er vor, die Sitzung
zu vertagen. Der gezierte Adonis der Mehrheit und Renegat des Liberalismus,
hatte vielleicht geglaubt, Oel auf die bewegten Fluthen zu gießen; in der That
aber goß er Oel ins Feuer.
Man konnte es der Minderheit nicht verdenken, daß sie nach Dr. Südeküm's
treffendem Ausdruck, sich lieber von einem handfesten Hinterwäldler als von einem
pomadisirten Gentleman abmurksen lassen wollte. Heiß wallte die Leidenschaft
auf. Singer bezeichnete das Kind mit dem rechten Namen, als er ausrief:
„Dieser Antrag ist der Ausfluß des Interesses, das die Herren Gesetzgeber
persönlich am Tarife haben." Als Ulrich seiner berechtigten Erregung noch
schärferen Ausdruck verlieh, erscholl es zwei Mal auf der Rechten: „Raus mit
dem KerlI" Nur mit Mühe hielten ein paar ältere Junker ihre jüngeren
Standesgenossen davon ab, ihr Rowdythum durch eine feierliche Prügelei zu be
kunden. Ledebour, Südekum, Pcus, Stadthagen und am nächsten Tage Geyer
und Haase sagten der in wüthendem Schreien sich ergehenden Mehrheit die
bittersten Wahrheiten. Auch die Peitschenhiebe, die Barth, Brömel, Gothein,
Pachnicke den Ueberrumplern versetzten, saßen gut, wie das wilde Lärmen der
Junker und Junkergenossen bewies. Beinahe idyllisch klang die väterliche Er
mahnung, doch nicht solche Gewaltstreiche zu machen, die unter gleichzeitigem
Abschwören jedes Obstruktionsgedankens der schwäbische Kammerpräsident Payer
an die Mehrheit richtete. Endlich um 7 Uhr wurde ein Vertagungsantrag Richter
angenommen.
Noch vier Tage wogte der erbitterte Geschäftsordnungskampf. Am Freitag,
den 28. November, unternahm der Reichsgerichtsrath Spahn das Kunststück,
nachzuweisen, das; 900 — 1 sei. Der „Kladderadatsch" spottete über „Das
Spahn'sche Einmaleins", und selbst der von der Mehrheit fortwährend mit
Lorbeerkränzen beworfene Eugen Richter sah sich zu dem Geständniß veranlaßt,
daß ihm so etwas Gekünsteltes und Gesuchtes in der Rechtsauslegung doch noch
nicht passirt sei. Sonst war die Freitagssitzung verhältnißmähig ruhig, bis es
Herrn Spahn's Parteigenossen Bachem beschicken war, eine neue furchtbare
Szene heraufzubeschwören.
Mit seinen dunklen Anspielungen auf angebliche verächtliche Aeußerungen
aus sozialdemokratischem Munde über die Rolle, die die Freisinnige Vereinigung
in dem Kampfe spiele, erregte Bachem so sehr den Unwillen der Linken bis zu
den Linksnationalliberalen wie Prinz Carolath u. s. w., daß ein hundert-
stimmiger Zuruf ihn aufforderte, die Wahrheit seiner Behauptungen entweder zu
beweisen oder sie zurückzunehmen. Da er beides nicht hat, so schwoll der Lärm
zum Tumult an, derart, daß schließlich der Vizepräsident Büsing die Sitzung auf
eine halbe Stunde vertagen mußte.