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den Äüsschlutz zurück zu nehmen-. Am Abend desselben Tages unterbrach eben
dieser Graf Stolberg den Sozialdemokraten Wurm zehnmal und entzog ihm
schließlich das Wort, weil er angeblich nicht zur Sache gesprochen hatte. Die
Mehrheit bestätigte diese Maßregelung durch ihren Beschluß. Sie stand be
sonders treu zu diesem ihrer Präsidenten. Am 3. Dezember hatte er B e b e l zur
Ordnung gerufen, weil dieser einige Bemerkungen des Grafen Posadowsky als
„unpassend" bezeichnet hatte. Dieser ganz unbegründete Ordnungsruf, der
der Ehre aller Reichstagsabgeordneten zu nahe trat, weil er mit der Begründung
ertheilt worden war, daß die Kritik Bebel's einem Bundesrathsmitgliede gegolten
habe und deshalb besonders scharf beurtheilt werden! müsse, wurde von der
Mehrheit am 5. Dezember ausdrücklich gebilligt und die Bebel'sche Beschwerde
verworfen.
Immer höher stieg in diesen! Sitzungen die Rohheit der Mehrheit. Ein
Schreichor trat auf der Rechten zusammen und brüllte: „Juden runter!", wenn
Stadthagen oder Wurm die Rednertribüne betraten. Herr Liebermann
von Sonnenberg wurde für seine antisemitischen Flegeleien, die er mit
wenig Witz und viel Behagen vortrug, wie ein Geistesheros gefeiert. Herr
Dr. Kropatschek, der Chefredakteur der „Kreuz-Zeitung", trieb die Frech
heit so weit, daß er vor den Bänken der Sozialdemokraten sich aufpflanzte, be
ständig mit dem Finger an seine Stirn tippte und fragte: „Sie sind wohl
verrückt?" Und am Donnerstag Abend bedrohte der angeheiterte nationalliberale
Major a. D. Placke Heine mit Ohrfeigen; er wurde darauf von seinen
eigenen Parteifreunden aus dem Saale entfernt.
Die nackte Willkür an Stelle des Leletres.
Alle diese Brutalitäten waren darauf berechnet, die sozialdemokratische
Fraktion zu unüberlegten Schritten aufzureizen. Die Minderheit aber verblieb
auf dem Boden der Gesetzlichkeit und des Rechts. Da sah die Mehrheit, daß
daß sie ohne neue Gewaltstreiche nicht zum Ziele gelangte. Wieder mußte die
Geschäftsordnung herhalten. Kurz entschlossen thaten sich die zwölf Haupt
wortführer der Mehrheit — an ihrer Spitze der Zentrums-„Demokrat" Gröber und
der „liberale" Wassermann — als die zwölf Apostel der Knebelpolitik zusammen
und brachten einen Antrag ein, den 8 44 der Geschäftsordnung dahin zu ändern,
daß 1. das Wort zur Geschäftsordnung vom Präsidenten nach Belieben ertheilt
oder verweigert werden kann, 2. die Dauer einer Geschäftsordnungs-Rede nicht
über fünf Minuten betragen darf. Der Antrag, wie ihn Herr Gröber näher er
läuterte, bedeutet die Ersetzung des Gesetzes durch die Willkür des Präsidenten
unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß sich dieser als Handlanger der
Mehrheit fühlen muß. Dieses Vertrauen hatten Graf Stolberg und der national-
liberale zweite Vizepräsident Büsing, der an Brutalität hinter seinem Kollegen
nicht zurückblieb, in den letzten Tagen reichlich verdient. Auch der erste Präsident,
Graf Ballestrem, sollte noch beweisen, daß er mit in den Strudel hineingerissen
war und den Glauben an seine Unparteilichkeit gründlich selber zerstören würde.
Ueber diesen Antrag Gröber hat kein Geringerer, als der kouservaUve
Staatsrechtslehrer Laband folgendes vernichtende Urtheil gefällt: „Es ist nicht
richtig, daß zu Bemerkungen über die Geschäftsordnung die Zeit von fünf
Minuten ausreicht. Geschäftsordnungsfragen sind oft von größter Wichtigkeit
für die Behandlung einer Vorlage und dabei so zweifelhafter Art und so schwierig