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Zn entscheiden, daß eine ausführliche Erörterung ganz unentbehrlich ist/ Es bann
eine Darlegung der bisherigen Praxis, der Gründe der vorgeschlagenen Ent
scheidung, der Folgen derselben it. s. w. erforderlich sein, und dafür genügt ein
Zeitraum von fünf Minuten nicht. Eine Geschäftsordnungsdebatte unter dem ;
Druck dieser Vorschrift wird zur Farce, wie die Verhandlung des Reichstags vom
9. Dezember gezeigt hat, und verletzt die Würde und das Ansehen des Reichstags.
Die lex Gröber ist im Reichstage, nicht mit Unrecht als ein brutaler Mißbrauch
der Macht der Majorität bezeichnet worden, um die Minorität mundtodt zu
machen. Das Parlament ist nach dem buchstäblichen Sinne des Wortes ein
„Gespräch", bei welchem die verschiedenen Ansichten geäußert werden sollen;
wird dies gewaltsam verhindert, so frevelt daS Parlament gegen fein eigentliches
Wesen und untergräbt sein Ansehen."
Noch bevor der Antrag zur Berathung kam, legte Singer seinen Vorsitz
in der Geschäftsordnungs-Kommission nieder, deren Mitglieder in ihrer Mehrheit
den Antrag mit unterzeichnet hatten.
Unter neuer Vergewaltigung des § 8ö der Geschäftsordnung wurde der
Antrag Gröber am Dienstag, den 9. Dezember — Sonnabend und Montag waren
wieder zur Jagd freigegeben worden —, auf die Tagesordnung gesetzt und trotz *.
einer eindringlichen Rede Bebels angenommen. Wie hätten auch Klugheit und
Beredsamkeit auf die zolltolle Mehrheit wirken sollen, in der die Nähe des er
sehnten Zieles jeden Funken parlamentarischen Gewissens, konstitutionellen Rechts
gefühls ertödtet hatte. Richter beschränkte sich auf eine lendenlahme Erklärung
und verhalf noch in der Abendnummer seiner „Freisinnigen Zeitung" vom
Dienstag der Mehrheit zu der Erleuchtung, daß bei der nöthigen Unbefangenheit
in der Auslegung auch Reden auf Uebergang zur Tagesordnung sich unter den
Begriff der Geschäftsordnungs-Reden pressen lassen.
So ausgerüstet vollendete die Mehrheit ihr Werk. Am Donnerstag, den fr
11. Dezember, wurde der Antrag Kardorff angenommen, nachdem die Mehrheit
mit einem Handstreich nicht weniger als 466 Abänderungsanträge der sozial
demokratischen Fraktion fortgewischt hatte, Damit war die zweite Lesung des
Tarifgesetzes und des ihm geschäftsordnungswidrig eingezwängten Tarifes
vollendet.
In großmüthiger Laune wurde von der Mehrheit die Bestimmung der Geschäfts
ordnung nicht verletzt, daß ein Tag zwischen der zweiten und dritten Lesung liegen
soll. Am Sonnabend um 10 Uhr fand man sich wieder zusammen. Der Reichskanzler
sprach seinen Segen zum Geschäftsordnungs-Bruch, wärmte sich die Hände an den
rauchenden Trümmern der Geschäftsordnung und verkündete die neue Weisheit,
daß Braugerste keine Gerste sei, und daß der Minimalzoll auf sie daher erhöht
werden dürfe. In dankbarer Rührung strich dafür das Zentrum mit eigener
Hand die auf seinen eigenen Antrag gefaßten Kommissionsbeschlüsse auf Er- j.,
Höhung und Erweiterung der Mindestzölle aus und kehrten reuig auf den Boden
der durch den Braugerstenzoll verzierten Regierungsvorlage zurück. Entschlossen,
die Sache zu Ende zu bringen, koste es,, was es wolle, amüsierte sich die Mehrheit
während der tapferen achtstündigen Rede, in der Antrick noch einmal im
Namen der Sozialdemokratie die Ungeheuerlichkeit des Tarifs geißelte, mit Essen, '
Trinken, Schlafen und. Skatspielen, erschien im Saal, um Schlußanträge an-
zunehnien und Abstimmungen vorzunehmen, brach mit christlich-frommem Sinne
außer der Geschäftsordnung auch noch die Sonntagsordnung und führte so in
einer einzigen, allerdings neunzehnstündigen Sitzung die dritte Lesung durch.
Zu guterletzt ließ auch Graf Ballestrem die Maske fallen, die er so lange
getragen, verhinderte Abstimmungen, entzog Stadthagen nach fünf Minuten das
Wort zur Begründung eines sachlichen Antrages auf Uebergang zur