Full text: Der Umsturz im Reichstag

22 
Zn entscheiden, daß eine ausführliche Erörterung ganz unentbehrlich ist/ Es bann 
eine Darlegung der bisherigen Praxis, der Gründe der vorgeschlagenen Ent 
scheidung, der Folgen derselben it. s. w. erforderlich sein, und dafür genügt ein 
Zeitraum von fünf Minuten nicht. Eine Geschäftsordnungsdebatte unter dem ; 
Druck dieser Vorschrift wird zur Farce, wie die Verhandlung des Reichstags vom 
9. Dezember gezeigt hat, und verletzt die Würde und das Ansehen des Reichstags. 
Die lex Gröber ist im Reichstage, nicht mit Unrecht als ein brutaler Mißbrauch 
der Macht der Majorität bezeichnet worden, um die Minorität mundtodt zu 
machen. Das Parlament ist nach dem buchstäblichen Sinne des Wortes ein 
„Gespräch", bei welchem die verschiedenen Ansichten geäußert werden sollen; 
wird dies gewaltsam verhindert, so frevelt daS Parlament gegen fein eigentliches 
Wesen und untergräbt sein Ansehen." 
Noch bevor der Antrag zur Berathung kam, legte Singer seinen Vorsitz 
in der Geschäftsordnungs-Kommission nieder, deren Mitglieder in ihrer Mehrheit 
den Antrag mit unterzeichnet hatten. 
Unter neuer Vergewaltigung des § 8ö der Geschäftsordnung wurde der 
Antrag Gröber am Dienstag, den 9. Dezember — Sonnabend und Montag waren 
wieder zur Jagd freigegeben worden —, auf die Tagesordnung gesetzt und trotz *. 
einer eindringlichen Rede Bebels angenommen. Wie hätten auch Klugheit und 
Beredsamkeit auf die zolltolle Mehrheit wirken sollen, in der die Nähe des er 
sehnten Zieles jeden Funken parlamentarischen Gewissens, konstitutionellen Rechts 
gefühls ertödtet hatte. Richter beschränkte sich auf eine lendenlahme Erklärung 
und verhalf noch in der Abendnummer seiner „Freisinnigen Zeitung" vom 
Dienstag der Mehrheit zu der Erleuchtung, daß bei der nöthigen Unbefangenheit 
in der Auslegung auch Reden auf Uebergang zur Tagesordnung sich unter den 
Begriff der Geschäftsordnungs-Reden pressen lassen. 
So ausgerüstet vollendete die Mehrheit ihr Werk. Am Donnerstag, den fr 
11. Dezember, wurde der Antrag Kardorff angenommen, nachdem die Mehrheit 
mit einem Handstreich nicht weniger als 466 Abänderungsanträge der sozial 
demokratischen Fraktion fortgewischt hatte, Damit war die zweite Lesung des 
Tarifgesetzes und des ihm geschäftsordnungswidrig eingezwängten Tarifes 
vollendet. 
In großmüthiger Laune wurde von der Mehrheit die Bestimmung der Geschäfts 
ordnung nicht verletzt, daß ein Tag zwischen der zweiten und dritten Lesung liegen 
soll. Am Sonnabend um 10 Uhr fand man sich wieder zusammen. Der Reichskanzler 
sprach seinen Segen zum Geschäftsordnungs-Bruch, wärmte sich die Hände an den 
rauchenden Trümmern der Geschäftsordnung und verkündete die neue Weisheit, 
daß Braugerste keine Gerste sei, und daß der Minimalzoll auf sie daher erhöht 
werden dürfe. In dankbarer Rührung strich dafür das Zentrum mit eigener 
Hand die auf seinen eigenen Antrag gefaßten Kommissionsbeschlüsse auf Er- j., 
Höhung und Erweiterung der Mindestzölle aus und kehrten reuig auf den Boden 
der durch den Braugerstenzoll verzierten Regierungsvorlage zurück. Entschlossen, 
die Sache zu Ende zu bringen, koste es,, was es wolle, amüsierte sich die Mehrheit 
während der tapferen achtstündigen Rede, in der Antrick noch einmal im 
Namen der Sozialdemokratie die Ungeheuerlichkeit des Tarifs geißelte, mit Essen, ' 
Trinken, Schlafen und. Skatspielen, erschien im Saal, um Schlußanträge an- 
zunehnien und Abstimmungen vorzunehmen, brach mit christlich-frommem Sinne 
außer der Geschäftsordnung auch noch die Sonntagsordnung und führte so in 
einer einzigen, allerdings neunzehnstündigen Sitzung die dritte Lesung durch. 
Zu guterletzt ließ auch Graf Ballestrem die Maske fallen, die er so lange 
getragen, verhinderte Abstimmungen, entzog Stadthagen nach fünf Minuten das 
Wort zur Begründung eines sachlichen Antrages auf Uebergang zur
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.