Zm\ Lügen von Lugen MM.
Es war am 22. Oktober 1902. Die zweihundertste Sitzung dieser über
langen Tagung des Reichstages war herangekommen, und ein Strauß Herbst
blumen, der auf dem Tische Vor dem Präsidenten stand, feierte den bemerkens
werten Tag. Graf Ballestrem dankte für das freundliche Erinnerungszeichen
und fügte im Tone des alten Biedermannes, den er so gut anzuschlagen Ver
steht, deni Wunsch hinzu, daß „der Spätherbst der Session noch
schöne Blumen und segensreiche Früchte der Gesetzgebung
zeitigen werde." Der stenographische Bericht Verzeichnet, daß diese kleine
Rede des Präsidenten mit Heiterkeit und Beifall aufgenommen wurde. Mit
Beifall, weil sie den Heißhunger der Mehrhcitspartcien! nach dem Zolltarif
hinter einem klingenden Worte Verbarg, mit Heiterkeit, weil gar mancher Ab
geordnete nicht daran glauben mochte, daß dieser Heißhunger noch im Spät
herbst gestillt werden sollte. Aber Graf Ballestrcm muß damals die Glücken
nicht blos haben läuten hören, er hat auch gewußt, wo sie hingen. Sein Partei
freund, Herr Dr. Spahn, bürstete bereits seinen Cylinder, um sich zu den
Gängen nach dem Palais des Reichskanzlers zu rüsten, wo der Verständigungs
Vertrag zwischen der Regierung und Zollmehrheit vorbereitet wurde. Wer
seine Pappenheimer kennt, hat leicht hoffen und prophezeien. Schon nach sieben
und einer halben Woche sollte sich die Hoffnung des Präsidenten erfüllen.
Am 14. Dezember wurde als „segensreiche Frucht der Gesetzgebung" der Zoll
tarif in die Scheuer geholt, der das arbeitende Volk in Stadt und Land mit
annähernd einer Milliarde Mark jährlich belastet; die „schönen Blumen" aber,
die die Mehrheit auf dem Wege zu diesem Ziele brach, sind ihre fortgesetzten
Rechtsbrüche, ihre schamlose Vergewaltigung der Minderheit, sind die Vernichtung
und Außerkraftsetzung der Geschäftsordnung, der geheiligten Verfassung des
Reichstages.
Unausgesetzt ist die landräthliche Kreisblaitpresse und mit ihr im engen
Bunde eine gesinnungslose, sich unparteiisch nennende Lokal- und Skandalprcsse,
die die Verdummung und geistige Verödung ihrer Leser zuur Geschäftsgrundsatz
erhoben hat, an der Arbeit, um im Volke grundfalsche Anschauungen über alle
diese Vorgänge zu verbreiten. Das Rezept, wonach gelogen wird, ist immer
dasselbe. Da wird zunächst behauptet, daß die Mehrheitsparteien sich niemals
über den Zolltarif geeinigt haben würden, wenn sie nicht durch den Widerstand
der Sozialdemokratie und der freisinnigen Vereinigung gegen das Zustandekommen
des ganzen Gesetzes in das Verständigungslager hineingeärgert worden wären.
Dies Märchen, das von den vereinigten Zollfreundcn begierig aufgegriffen und
weiter erzählt worden ist. stammt von Herrn Eugen Richter, dem Führer der
Freisinnigen Volkspartei, der cs für die politische Kinderstube ersonnen hat, um
seine eigene Schlaffheit und Feigheit, seine von den kleinlichsten Wahlintcressen
bedingte Furcht vor dem Zentrum zu bemänteln. Wie? Ungeheure materielle
Interessen stehen auf dem Spiele: Die abgemeierten Junker rechnen auf eine
neue millionenschwere Hilfe durch den Staat, der den Kornpreis durch Zölle künst-
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