Ssrt diesem Tage sprach sich die Minderheit sehr klar über die Obstruktion aus.
Besonders war es S t a d t h a g e n , der die Anschauung der sozial
demokratischen Fraktion über Begriff und Recht der Obstruktion folgendermaßen
begründete'und umgrenzte:
„Niemand denkt an Obstruktion, wenn man darunter ein Mittel versteht,
das in illoyaler Weise gegen die, Geschäftsordnung, gegen die Gesetze die
parlamentarische Maschine zur Ruhe bringt. Wenn unter Obstruktion ver
standen wird die Anwendung aller Mittel im Rahmen der Geschäftsordnung, um
es dem parlamentarischen Körper unmöglich zu machen, bestimmte Gesetze zur
Verabschiedung zu bringen, so geht diese Obstruktion aus dem Wesen des
Parlamentarismus, aus dem Rechte der Minderheit, die eine Mehrheit imi
Volke vertritt, hervor. . . . Im Uebrigen habe ich noch nichts von einer
Obstruktion bemerkt. , . Die Minderheit kann allerdings nur dann diese Mittel
der Geschäftsordnung bis zum Aeußersten zur Anwendung bringen, wenn die
Ueberzeugung von der für das Gemeinwesen schädlichen Absicht der Mehrheit
des Parlaments über gesetzgeberische Maßnahmen, die sie hindern will, sie eint,
und wenn sie sich bewußt ist, daß die Mehrheit des Volkes hinter ihr steht.
Weil die Anhänger des Zolls den mehr oder tveniger klaren Gedanken haben,
daß es richtig ist, die übergroße Mehrheit des Volkes steht hinter denen, die die
Lebensmittelzölle nicht haben wollten, deswegen sprechen sie von Obstruktion und
fürchten sie." Stadthagen ging dann noch ein wenig auf die Geschichte der Ob
struktion ein, von ihrem ersten Auftreten im Jahre 1771 im englischen Parlament,
wo sie die Einführung der Zensur hinderte, bis zu der Obstruktion der Kanäl-
rebellen im preußischen Abgeordnetenhause und der Obstruktion der Konservativen
im deutschen Reichstag bei, der Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches, um die
Freßfreiheit der Hasen auf Bauernäckern zu sichern.
Inzwischen wurde von der Mehrheit das angesagte Spiel fortgesetzt. Der
Führer der „unversöhnlichen" Agrarier, Herr von Wangenheim, erklärte im ur-
kräftigen Junkerjargon: „Wenn der Reichskanzler auf seinem Standpunkt ver
harrt, dann ist es besser, zu Hause Kartoffeln zu buddeln." Und gleichsam als
Antwort auf diese Sehnsucht nach Kartoffelbuddelei, die der Freiherr persönlich
wohl nie betrieben hat, forderte in der folgenden Sitzung am Montag, den
20. Oktober, der „links"-nationalliberale Bennigsen-Schüler und Archivrath
Dr. Sattler die Regierung auf, — den Reichstag nach Hause zu schicken,
d. h. Neuwahlen zu veranstalten. Allein diese Scharfmacherei gehörte mit zum
Progranim der Komödie. Der ganze Schlachtplan der Vorständigungsakteure,
wie er alsbald ans Tageslicht trat, liegt in folgenden Sätzen der Sattler'schen
Rede:
„Die Mehrheit" — die den hartnäckigen Widerstand der Minderheit besiegen
will — „muß entschlossen sein, ihre Macht auch anzuwenden, und um diese Ent
schlußfähigkeit zu haben, muß sie erfüllt sein von dem Werthe des Ziels, wofür
sie kämpft. Sie muß auch wissen, daß das, wofür sie kämpft, Gesetz wird und
nicht schließlich am Widerspruch der Regierung scheitert." Das ist der Kern- und
Schwerpunkt der Sattler'schen Rede und nicht das komödienhafte Scharsmachen
der Regierung.
Am 21. Oktober schloß die Diskussion über die Mindestzölle für Roggen
und Weizen, ohne daß es eines Schlußantragcs bedurft hätte. Von den
33 Rednern, die in der Debatte zu Worte gekommen waren, gehörten nur drei:
Antrick, Stadthagen und Baudert der sozialdemokratischen Fraktion an. Von
der freisinnigen Vereinigung hatten drei, die Abgeordneten Gothein, Dr. Pach-
nicke und Dr. Barth, an dem gleichen Strange gezogen.
Bei der Feststellung der Abstimmungsart über die Zollhöhe leistete Herr
Eugen Richter der Zollmehrheit den ersten Liebesdienst. Der Präsident hatte