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schießen leidlich, und der Krieg ist ja noch lange nicht
zu Ende.
Wenn ich mich heute frage, was mich damals in
all die Wirrsal getrieben hat, so war es vielleicht ein
Überschwang an Phantasie. In der andern sah ich
immer einen Teil von Ihnen, liebte vielleicht zwei,
Ihre herrliche Seele, Frau Annemarie, und der andern
rotblondes Haar ... ich weiß es nicht mehr, mein
armer Kopf tut mir weh von dem vielen Grübeln.
Und keine Rettung: Selbst wenn sie ohne Seele wäre,
könnte ich ihren Verlust nicht verwinden. In hundert
Nächten schon ist mein Herz über Länder und Meere
heimwärts geflogen . . . auch heute liege ich allein an
dem spärlichen Lagerfeuer, in der Brust alles leer,
weil mein Bestes wieder einmal auf Urlaub ist. . . .
Und ob sie vielleicht noch einmal an mich denkt? . . .
Vor mir, im ungewissen Licht der Mondsichel, erheben
sich die nackten Felsen, die wir mit Tagesgrauen
stürmen sollen ... in Prahlstorff aber sitzt eine, ein
andrer beugt sich über ihr lachendes Gesicht, und sie
merkt es vielleicht gar nicht, daß mein Herz um sie
flattert ... die Nacht ist herum, in der Vorposten
linie fallen Schüsse . . . also vielleicht heute .. . oder
morgen?
So lautete der Brief ohne Unterschrift und Adresse,
der durch einen merkwürdigen Zufall — vielleicht, weil
er beim Auffinden des Gefallenen in dem Kuvert der
Vermählungsanzeige gelegen hatte — an eine falsche