Full text: Über angebliche Zahnanlagen bei Vögeln

Es ist ja wohl sicher, dass die ganze Vogelklasse sich von 
zahntragenden Sauriern abgezweigt hat. Aber je früher eine 
Differenzierung in bezahnte und unbezahnte Formen stattge- 
funden hat, um so geringer ist die Aussicht, rudimentäre Gebiss- 
anlagen bei den unbezahnten Abkömmlingen anzutreffen. Damit 
fallt der Einwand derjenigen fort, welche behaupten, dass in 
jedem Falle, früher oder später, die Ahnen Zähne getragen 
hätten, und dass daher ein bestimmtes Anrecht bestände, in der 
Entwicklungsgeschichte der Urenkel Anklänge an den einstigen 
Besitz der Vorfahren zu erwarten. 
Einwandfreie Zahnanlagen haben ein so typisches Aussehen, 
dass man sie sofort entdecken würde, falls sie vorhanden wären. 
Wenn man bedenkt, dass im Dienste der Entwicklungsgeschichte 
Embryonen der verschiedensten Vogelarten mikroskopisch unter- 
sucht werden, so liegt der Schluss nahe, dass der Zufall bei den 
Untersuchungen an vielen Hunderten von verschiedenen Arten 
viel eher ‘positiven Erfolg bringen könnte, als eine spezielle 
Untersuchung an einer sehr beschränkten Zahl von Objekten, da 
es schwer sein dürfte, ausgebildete Zahnanlagen mit Zahnleiste, 
Zahnsäckchen usw. zu übersehen, auch wenn man nicht speziell 
nach diesen sucht. Es war mir daher von vornherein klar, dass 
meine Aufgabe darin bestände, die bestehenden Theorien einer 
gründlichen Nachprüfung zu unterziehen und die Verwirrung zu 
beseitigen, die in Betreff der angeblichen Zahnanlagen bei Vögeln 
existiert. Ich bringe nachstehend die Resultate meiner Unter- 
suchung. Als Material stand mir eine Reihe von Embryonen und 
Nestjungen vom Wellensittich, Melopsittacus undulatus, zur Ver- 
fügung, an denen sich alle in Frage kommenden Gebilde gut 
studieren lassen. Ich verdanke sie zum Teil der Liebenswürdigkeit 
des Herrn Prof. Dr. Poll, dem ich hierfür an dieser Stelle meinen 
verbindlichsten Dank aussprechen möchte. 
Kritik der „Zahnpapillen“ von Geoffroy St.-Hilaire. 
Die Ansicht Geoffroy St.-Hilaires und Cuviers, dass 
die von ersterem entdeckten Papillen am Kieferrande älterer 
Embryonen und junger Tiere von Papageienarten Zahnanlagen 
seien, galt lange als erwiesene Tatsache und wird sogar noch 
jetzt bisweilen in wissenschaftlichen Werken erwähnt. Zwar sagt
	        
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