Full text: Christentum und Sozialismus

A n d i e verehrliche Redaktion des „Volksstaat" 
zu Leipzig. 
Sie geben in dem Leitartikel in Nr. 114 des „Volksstaat" vom 21. No 
vember einen Passus wieder, aus einer in Ihrem Berlage erschienenen 
Broschüre, die den Titel hat: „Die parlamentarische Tätigkeit des Deutschen 
Reichstages und der Landtage und die Sozialdemokratie." 
In demselben wird unter anderem die Behauptung aufgestellt, daß Staat 
und Kirche sich „brüderlich unterstützen, wenn es das Volk zu knechten, zu ver 
dummen und auszubeuten gilt"; die katholische Geistlichkeit und der moderne 
Staat seien „vollständig einig, wenn es sich um Unterdrückung des Volkes 
handelt"; die Priestcrschaft sei stets „für den Rückschritt und die Barbarei 
eingetreten". 
Da ich nun Mitglied der katholischen Kirche sowohl als des katholischen 
Klerus bin, und als Geistlicher verpflichtet bin, eine Kleidung zu tragen, die 
es jedenr, der mich sieht, sofort anzeigt, daß ich der katholischen Priesterschast 
angehöre, so werden Sie mir zugeben, daß ich persönlich und speziell durch die 
obigen Anschuldigungen mitgetroffen und vor allen Lesern des „Volksstaat", 
denen ich im Leben begegne, aufs Aeußerste kompromittiert erscheine. Ich sehe 
mich daher genötigt, an Ihre Loyalität zu appellieren und Sie zu ersuchen, die 
folgende Verteidigung und Rechtfertigung meiner selbst zur Kenntnis Ihrer 
Leser zu bringen. Ich glaube dies um so mehr fordern zu müssen und zu können, 
da ich außer meiner Ehre und meinem guten Namen nichts, rein gar nichts 
besitze, auf mich also im vollsten Sinne die Worte Anwendung finden würden: 
«Ehre verloren, alles verloren!" 
Sie sind ein Gegner der katholischen Religion; Sie sind desgleichen ein 
Gegner der liberalen Bourgeoisie. Wenn die Söldlinge dieser letzter» Ihnen 
die Sünden der Tölckianer*) aufbürden, so schreien Sie aus Leibeskräften über 
das Ihnen geschehene Unrecht und sagen mit Recht, man dürfe nicht den 
Sozialismus verantwortlich machen für dasjenige, was einzelne Menschen tun, 
die sich Sozialisten nennen, und Sie lehnen jede Solidarität mit den Hasen- 
clever-Hasselmännern*) ab. Zu meinem großen Befremden muß ich aber sehen, 
daß Sie gegenüber dem Ultramontanismus und dem ultramontanen Klerus in 
denselben Fehler fallen, den Sie an den Liberalen so scharf rügen. Sie machen 
die Kirche verantwortlich für die Fehler und die Religion für die Mängel und 
Sünden ihrer Bekenner; Sie legen der Gesamtheit zur Last, was einzelne 
verschuldet; Sie verdammen den Schuldigen mit dem Unschuldigen. Oder 
nennen Sie mir ein Laster, einen Ucbelstand — soweit er nicht in der Natur 
alles Irdischen begründet ist — eine Ungerechtigkeit und Nichtswürdigkeit, die 
nicht von der katholischen Religion und von der katholischen Kirchenlehre streng 
verboten und verpönt wäre. Nennen Sie mir irgend etwas, das von Ihnen 
*) Redewendungen, die auf Rechnung der damaligen Streitigkeiten zwischM den 
Leiden sozialdemokratischen Richtungen zu setzen sind. D. H.
	        
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