stellt, Forderungen, die unsinnig wären, wenn die Zunahme des Elends unwider
stehlich wäre und darin die Vorbedingung des Sieges der Sozialdemokratie läge.
Der Sah vom wachsenden Elend im Erfurter Programm ist wörtlich dem
„Kapital" von Marx entnommen, in demselben Werke, das zum ersten Male die
Bedeutung der A r b e i t e r s ch u tz g e s e tz g e b u n g für die Wiedergeburt der
Arbeiterklasse systematisch erläutert und das mehr als irgend ein anderes Werk
dazu beigetragen hat, den Gedanken des Arbeiterschutzes außerhalb Englands
einzubürgern. Und derselbe Marx hat, namentlich in der „Internationale"
ebenso eifrig wie erfolgreich dafür gewirkt, das Gewerkschaftswesen
von England nach dem übrigen Europa zu verpflanzen.
Die Gegner des Marxismus und der Sozialdemokratie helfen sich damit,
hier einen Widerspruch im sozialistischen Denken entdecken zu wollen, aber das
heißt denn doch, sich die Kritik des Sozialismus gar zu bequem machen.
Was das Programm behauptet, das ist in den letzten Jahrzehnten zum Ge
meingut der Wissenschaft geworden, das erkennen selbst viele Vertreter der bürger
lichen Wissenschaft an: der schrankenlose Kapitalismus bedeutet
wachsende Zunahme der Unsicherheit, des Elends, der Knechtung der unteren
Bolksklassen. Das Kapital wird getrieben von der Sucht nach Profit, und dieser
Drang wird in dem einzelnen Kapitalisten entwickelt durch den Zwang der
Konkurrenz. Daher strebt das Kapital danach, die Arbeitszeit der Arbeiter
auszudehnen, die Löhne zu drücken, durch Arbeitstheilung und Maschinen es zu
ermöglichen, daß billigere Arbeitskräfte die besser bezahlten ersetzen, der unge
lernte Arbeiter an Stelle des gelernten, Frauen und Kinder an Stelle der
Männer treten. Das Streben nach Profit zusammen mit der Planlosigkeit der
Produktion bringt aber auch Krisen mit sich, deren Umfang immer mehr wächst,
und die das Elend der Arbeitslosigkeit in den weitesten Kreisen der Bevölkerung
verbreiten.
Daß die ökonomische Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft, von der
das sozialdemokratische Programm spricht, diese Wirkungen hat, ist heute, wie ge
sagt, auch von vielen bürgerlichen Sozialreformern anerkannt. Andererseits aber
stimmen die Sozialdemokraten mit den Letzteren darin überein, daß es dringend
nothwendig ist, diese Wirkungen der ökonomischen Entwickelung einzuschränken,
und daß dies heute schon bis zu einem sehr erheblichen Grade geschehen kann,
namentlich durch die Arbeiterschutz-Gesetze und gewerkschaftliche Organisationen,
die am wirksamsten der Zunahme des Elends, der Knechtung, der Unsicherheit,
der Ausbeutung entgegentreten.
Nicht darin liegt der Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und Sozial
reformern, sondern in ihrer Auffassung der Kräfte, von welchen diese Ein
schränkungen hervorgerufen werden, und der Wirkungen, die aus ihnen hervor
gehen.
Die Sozialreformer meinen, daß immer mehr die ganze bürgerliche Ge
sellschaft den Kampf gegen das Elend mitmache. Die Sozialdemokraten da
gegen wissen, daß die bürgerlichen Klassen nie die Kraft oder auch nur den
Willen aufbringen, dem wachsenden Elend dort entschieden entgegenzutreten,
wo dies nur auf Kosten des Profits möglich ist. Sie wissen, daß die einzige
wirksame Kraft der Sozialreform der zunehmende Widerstand des Proletariats
ist, das an Zahl immer mehr wächst und durch seine wirthschaftlichen und
politischen Organisationen immer mehr erstarkt.
Soweit die bürgerlichen Klassen größere soziale Reformen durchführen, ist
bas nur der Furcht vor der anwachsenden Arbeiterbewegung, in Deutschland der
Furcht vor der Sozialdemokratie zuzuschreiben. Ohne Sozialdemokratie keine
Eozialreform.
Das erkannte Bismarck selbst an, indem er am 26. November 1884 er
klärte: „Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe, und wenn nicht eine