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Einleitung,
Das unaufhaltsame Vordringen der Sozialdemokratie bringt ihre GeMH
auf die sonderbarsten Ideen und Versuche. Daß eine Bewegung, die seit 40 Jahre«
ununterbrochen und rasch anwächst, tief in den Verhältnissen begründet sein
mutz, wollen und können sie nicht zugeben, weil sie damit ihr eigenes Todes
urtheil aussprächen. So verfallen sie auf die mannigfaltigsten Manieren, mit
der Sozialdemokratie fertig zu werden, da aber keine hilft, können sie keine längere
Zeit befolgen, muffen sie haltlos von einem Mittel zum andern schwanken.
Als die Sozialdemokratie aufkam, versuchte es Bismarck, sie für sich auI«
zubeuten und sich dienstbar zu machen. Als dies nicht gelang, ging er
dazu über, die unbequeme Partei durch Gewaltmatzregeln zu unterdrücken.
Als er auf dem Wege des gemeinen Rechts dabei nicht vorwärts kam, griff
er zu Ausnahmemahregeln. Aber es nützte Alles nichts. Die Sozialdemokratie
wuchs unwiderstehlich an. Bismarck konnte seiner Gegner schließlich nicht mehr
Herr werden, ein neuer Kurs setzte ein, der hoffte, die oppositionellen Arbeiter-
massen durch mildere Behandlung einschläfern und ihren großen sozialistische«
Zielen abwendig machen zu können.
Ganz auf gewaltsame Unterdrückung verzichtet freilich auch der neue Kurs
nicht, Staatsanwälte und Polizisten werfen der Arbeiterbewegung so viel Knüppel
zwischen die Beine, als das gemeine Recht liefern kann. Aber die Hauptsache
ist jetzt doch der Kampf gegen die Sozialdemokratie mit „geistigen Waffen", das
heißt? man versucht den Arbeitern einzureden, daß sie alle Ursache hätten, zu
frieden zu sein, und daß die Behauptungen der Sozialdemokratie im Widerspruchs
zu den wissenschaftlich festgestellten Thatsachen stünden.
Die Zahl der Bücher und Schriften, welche dieser Aufgabe gewidmet sind,
ist Legion. Jede von ihnen zu beantworten, ist unmöglich. Es ist aber auch nicht
nöthig, denn sie gleichen einander nur zu sehr. Es genügt, wenn man hin und
wieder eines dieser Exemplare ansieht, um gleich die ganze Gattung zu kenn-
zeichnen. Eine der jüngsten der Schriften, die bestimmt ist, die Sozialdemokrasie zu
vernichten, betitelt sich:
Soziale Thatsachen und sozialdemokratische Lehren.
Ein Büchlein für denkende Menschen und besonders für denkende Arbeiter 1
von H. Bürger.
Es ist im Frühjahr 1902 erschienen und rühmt sich in einer späteren Airs-
läge, der „Vorwärts" habe es kritisiert, ohne auch nur den Versuch zu machen,
eine einzige der von ihm vorgebrachten Thatsachen zu entkräften. Als ob das mit
ein paar Worten geschehen könnte! Ein Narr vermag bekanntlich mehr zu fragen,
als zehn Weise beantworten können, und ein Dummkopf oder Lügenbeutel kann
auf einer Zeile mehr behaupten, als man auf zehn Seiten widerlegen kann.
Diese Mühe macht man sich nicht jedem Kritiker gegenüber.
Aber das Schriftchen des Herrn Bürger ist eine Quintessenz alles dessen, was
in den letzten Jahren gegen das Programm der Sozialdemokratie vorgebracht
worden, und es scheint den erbittertsten unserer Gegner besonders wirkungsvoll zu
sein. Der Zentralverband deutscher Industrieller, diese bekannte Scharfmacher-
gesellschaft, bettelt um Beiträge, die dazu benutzt werden sollen, die Bürger'schs
Schrift vor den nächsten Reichstagswahlen in acht Millionen Exemplaren
zu verbreiten. Wenn schon nicht die Qualität, so lohnt also schon dieU
Quantität die Mühe, das Schriftchen einmal näher anzusehen,