Full text: Heimweh: eine Auswahl aus Jung-Stillings Werken mit biographischer Einleitung

„Wieviel haben Sie noch?" Stilling versetzte: 
„Einen Taler — und das ist alles!" „So," fuhr der 
Herr fort, „ich bin einer von Ihres Vaters Rent 
meistern; ich werde also jetzt einmal den Deutel ziehen." 
Damit zählte er Stilling 33 Taler hin und sagte: 
„Mehr kann ich für jetzt nicht missen. Sie werden 
überall Hilfe finden. Können Sie mir das Geld 
einstens wiedergeben, gut; wo nicht, auch gut". — 
Stilling fühlte heiße Tränen in seinen Augen und 
dankte herzlich für diese Liebe und sprach: „Das ist 
reich genug, ich wünsche nicht mehr zu haben." 
Natürlich waren auch diese 33 Taler bald ver 
braucht. Große Verlegenheiten blieben ihm nicht er 
spart. Aber cs ward dem treuen Beter immer wieder, 
oft auf wunderbare Weise, geholfen. Er studierte 
fleißig und erwarb sich schon nach anderthalb Jahren 
die medizinische Doktorwürde. 
Was in dieser Straßburger Studienzeit viel zu 
seiner geistigen Anregung und allgemeinen Bildung 
beitrug, war die nahe Freundschaft mit Goethe und 
Herder. Es ist beachtenswert, daß trotz der ver 
schiedenen religiösen Stellung die beiden Männer, 
Goethe und Stilling, sich durchs Leben hindurch 
Achtung und Liebe bewahrt haben. Stilling hat sich 
darüber in seiner Lebensgeschichte mehrfach geäußert. 
Aber auch Goethe hat in dem Buche, das aus sei 
nem Leben erzählt, in „Dichtung und Wahrheit", 
eingehend sein Verhältnis zu seinem Studienfreunde ge 
schildert. Stilling hat niemals einen Hehl aus seinem 
Glauben an Christum gemacht. Und Goethe hat, 
ob er auch gelegentlich einmal einen leisen Spott nicht
	        
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