Full text: Heimweh: eine Auswahl aus Jung-Stillings Werken mit biographischer Einleitung

tige, allwissende, alliebende, allgegenwärtige mensch 
liche Seele, die sie nun Gott nennt. So wie nun ein 
menschlicher Künstler ein Kunstwerk, z. B. eine Uhr, 
macht, diese Uhr aber sehr unvollkommen sein würde, 
wenn der Künstler immerfort bald hier, bald da ein 
Rädchen drehen, rücken oder auf irgendeine Art immer 
nachhelfen müßte, so hat der höchst vollkommene 
Künstler auch eine Maschine gemacht, die aber, eben 
darum, weil der Meister höchst vollkommen ist, auch 
höchst vollkommen sein muß und also nirgends eine Nach 
hilfe oder Mitwirkung des Künstlers nötig haben darf. 
Daß aber dieser schreckliche Grundsatz nicht wahr 
ist, das sagt uns unser eigenes Freiheitsgesühl, aber 
auch eben die nämliche Vernunft; denn wenn er 
wahr wäre, so wäre jede menschliche Handlung, so wie 
sie geschieht, vom Schöpfer bestimmt. Die greulichsten 
Taten, die irgend nur Menschen begehen können, und 
die schrecklichsten Leiden, die sich die Menschen unter 
einander zufügen, alle die Unterdrückungen der Wit 
wen und Waisen, alle Greuel des Krieges usw., das 
alles hat der Gott der neuen Aufklärung gewollt, 
denn er hat ja die Natur so eingerichtet, daß das 
alles erfolgen mußte. 
Daß jede nur einigermaßen vernünftige Vernunft 
vor diesem gewiß logisch richtigen Folgesatz zurück 
beben muß, wird niemand leugnen. Folglich steht 
hier die Vernunft mit sich selbst im Widerspruch. Und 
wo das der Fall ist, hört ihr Gebiet auf. Schrecklicher 
läßt sich nichts denken, als wenn man die menschliche 
Vernunft, besonders in unsern Zeiten, wo der un 
bändigste Lupus und die unbändigste Sittenlosigkeit 
miteinander wetteifern, auf solche Wege leitet — und
	        
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