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lichkeit zu treten im Begriffe standen, sich auch eine Mytho
logie schufen. Und so wählten sie einen Helden, der ihre
eigenen Züge trug, aber fast ins Überirdische idealiert er
scheint. Hundertundzwanzig Jahre nach seinem Tode, sagten
sie, hat man jetzt erst sein Grab gefunden; das rückte die
Sache schon in ein ehrwürdiges Alter. Selbst war man christ
lich gesinnt, daher heisst der Heros Christian, selbst bearbeitete
man chymisch das Rosenkreuz und benannte sich nach ihm,
daher musste auch er »Rosenkreuz« heissen. Die ganze Fabel
sowohl als der Name entsprach trefflich der Sachlage und bot
Aussicht dafür, sich höchst glücklich einzuführen.
Sehr möglich erscheint es, dass durch die Schaffung dieser
mythischen Persönlichkeit die Benennung christlich-chymischer
Gesellschaften als Rosenkreuzer noch eine weitere Verstärkung
erfahren hat; das ändert aber nichts an der Tatsache, dass be
reits vor der Fama Rosenkreuzer existierten und dass auch die
Kunstschöpfung »Christian Rosenkreuz« entweder unmittelbar
dem chymischen Handwerk oder mittelbar den nach diesem
benannten Rosenkreuzern ihren Namen verdankt. —
VIII. Kapitel.
Zusammenfassung der älteren Geschichte der Rosen
kreuzer.
Mit Recht beginnt die Aufstellung geschichtlicher Daten
über das Rosenkreuzertum mit Morienes.*) Wie so viele kulturelle
Bewegungen der Menschheit entstammen auch die Urelemente
der Rosenkreuzerei dem Orient. Ex Oriente lux! Dieser
Satz gilt auch hier. Araber und Muhammedaner waren es,
von denen die lateinischen Christen die chymische Kunst er
lernten. Die dem Geber, dem Avicenna, dem Rhases, Averrhoes
und anderen Arabern zugeschriebenen chymischen Schriften,
worauf sich die lateinischen christlichen Schriftsteller, welche
diesen Gegenstand behandeln, so oft berufen, beweisen es zur
Genüge, dass die chymische Kunst unter den Christen nicht
einheimisch gewesen ist. Erst das Zeitalter der Kreuzzüge
mit seinem innigeren Verkehr zwischen Orient und Occident,
*) Tatsächlich liegt die erste Entwicklung der Chymie viel weiter zurück;
ihre Wurzeln erstrecken sich bis in die vorgeschichtliche Zeit und führen uns nach
dem Wunderlande Egypten, welches daher bei griechischen Autoren schlechtweg
»Chemia« genannt wurde. Die Araber aber sind es, durch welche dem Abendland
die Kenntnis aller chymischen und okkulten Künste vermittelt wurde. Die Silbe
»Al« im Worte »Alchemie« ist dementsprechend auch nichts anderes als der
arabische Artikel, der missverständlich zum Worte »Chemie« oder »Chymie« hin
zugezogen wurde, gleichwie aus dem spanischen »dorado« ein »Eldorado« ent
standen ist.