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man aber eine solche Vereinigung, so lange sie ohne Haupt ist, nicht eine Körperschaft‘ nennen.
Denn wie in einem Naturwesen, wenn man ihm den Kopf abschlägt, der übrige Teil nicht Körper,
sondern Rumpf genannt wird, also kann man auch im staatlichen Sinne eine‘ Gemeinschaft ohne
Haupt nicht als Körperschaft bezeichnen. Auch der Philosoph sagt Polit. 1: „Sobald aus mehreren
eine Einheit geschaffen wird, mufs darin ein Regierendes und ein Regiertes sein“. Darum mufs
eine Gemeinschaft von Menschen, welche sich zu einem Staate, mit andern Worten zu einem
politischen Körper erheben will, immer Einen über sich stellen, der den Körper regiert, und diesen
nennt man König. Sowie aus der Leibesfrucht der natürliche Körper entsteht, der von einem
Haupte gelenkt wird, also entsteht aus einem Volke ein Staat, welcher ein ideeller Körper ist, der
von einem Menschen wie von einem Haupte gelenkt wird. Und wie im natürlichen Körper das Herz
das erste Lebendige ist, welches in sich das Blut enthält und dieses in alle Glieder hinaussendet, so dafs
jene leben und gedeihen, also ist in dem staatlichen Körper der Wille des Volks das erste Lebendige,
welches das Blut, nämlich die Fürsorge für die Wohlfahrt des Volks, in sich enthält, und diese den:
Haupt und allen Gliedern des Körpers einflöfst, wovon diese sich nähren und gedeihen. Das Gesetz aber,
durch welches die Gemeinschaft von Menschen zu einem Volke wird, entspricht den Bändern und
Sehnen im natürlichen Körper, denn ‚gleich wie diese dem Körper ein festes Gefüge: verleihen,
so wird durch das Gesetz — „Jlex” von „Jligare” binden — der ideelle Körper zu einem Wesen ver-
bunden und als solches erhalten; und wie die Glieder und Knochen eines natürlichen Körpers
durch die Sehnen und Bänder in den Stand gesetzt werden, die ihnen eigentümlichen Verrichtungen
auszuüben, so geschieht es mit den Gliedern, in denen der staatliche Körper seine Kraft offenbart,
durch das Gesetz. Wie aber das Haupt des natürlichen Körpers seine Sehnen und Bänder nicht
wechseln, noch den Gliedern ihre besondere Verrichtungen nehmen oder ihnen ihren Anteil an
Blut verweigern kann, so kann auch der König, das Haupt des Staats, die Gesetze dieses Körpers
nicht verändern, noch kann er den Unterthanen das wegnehmen, was ihnen gehört, ohne dafs sie
ihre Zustimmung geben. Hierin habt Ihr, mein Prinz, das Wesen jedes verfassungsmäfsig regierten
Reiches, und Ihr möget nun ermessen, welche Gewalt der König eines solchen über die Gesetze
und über seine Unterthanen ausüben kann. Ein solcher König ist eingesetzt zum Schutze des
Rechtes seiner Unterthanen, ihres Leibes und ihrer Habe, und zu diesem Zwecke ist ihm die Macht
vom Volke übertragen, so dafs es ihm nicht freisteht, eine andre Macht über sein Volk auszuüben.
Um nun also kurz auf Eure Frage zu antworten, woher es komme, dafs die Macht der Könige
über ihre Unterthanen so verschieden ist, so bin ich der festen Meinung, dafs der erwähnte Unter-
schied einzig aus der verschiedenen Entstehungsweise der Reiche herrührt. Das englische Volk
nun, das aus einer Schar Trojanern entstanden ist (nach Geoffrey of Monmouth: Historia Britonum)
die Brutus von Italien und Griechenländ herbegleiteten, hat sich zu einem nach Gesetzen regierten
Königreich ausgebildet; ebenso hat sich Schottland, das einst dem englischen Reiche als Herzog-
tum untertban war, in solcher Weise entwickelt. Gar viele andere Reiche haben durch ähnlichen
Ursprung das Recht erworben, nicht nur königlich, sondern aüch verfassungsmäfsig regiert zu
werden. So schreibt auch Diodorus Siculus im zweiten (?) Buche der „Alten Geschichte“ von
den Ägyptern (I, 69), dafs ihre Könige nicht nach der willkürlichen Weise andrer Herrscher, deren
Wille Gesetz war, lebten, sondern dafs sie wie die Privatleute durch das Gesetz beschränkt waren,
und dies keineswegs als einen Zwang ansahen, da sie überzeugt waren, im Gehorsam gegen die
Gesetze ihr Glück zu tinden. Denn sie meinten, dafs die, welche ‘sich ihren Eingebungen frei