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Beschaffenheit nicht in einem Mangel des Civilrechts selbst noch in einer Verschuldung des Ge-
setzgebers liegt, sondern in dem Zustande des Landes. Es ist zwar unzweifelhaft, dafs das eng-
lische Recht in dem genannten Punkte für England geeigneter ist als das Civilrecht, und niemand
sollte daran denken, es mit diesem vertauschen zu wollen; diese Vortrefflichkeit des englischen
Rechts aber, die aus dem Wohlstand und der Bevölkerungsdichtigkeit des Landes hervorgeht, wirft
durchaus keinen Schatten auf das Civilrecht.
Kapitel XXXI1.
Aber, mein guter Herr Kanzler, obwohl mir die Methode, durch welche die Gesetze Eng-
lands in streitigen Punkten die Wahrheit finden lassen, sehr gefällt, so bleibt doch für mich ein
Zweifel bestehn, nämlich der, ob sie nicht der hl. Schrift widerspreche. Unser göttlicher Heiland
sagt zu den Pharisäern (Ev. Joh. 8, 17): „In eurem Gesetz ist geschrieben, dals das Zeugnis zweier
Männer wahr ist“. Und zur Bestätigung fügt er gleich im nächsten Verse hinzu: „Ich selbst bin
der eine, der von mir Zeugnis ablegt, und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir‘.
Die Pharisiäer waren Juden; wenn er also sagt: in eurem Gesetz, so meint er im mosaischen Ge-
setz; dieses aber ist kein andres als das Gesetz Gottes, das durch Moses den Kindern Israels ver-
kündigt worden. Diesem Gesetz Moses zuwiderhandeln, heifst daher: dem göttlichen Gesetz wider-
streben. Daraus folgt, dafs das englische Gesetz dem göttlichen Gesetz widerstrebt, das doch in
keiner Weise verachtet werden darf. Auch lesen wir, dafs unser Heiland, da er von Beleidigungen
und gegenseitiger Vergebung redet, unter anderem sagt (Ev. Matth. 18, 16): „Wenn dein Bruder
nicht auf dich hören will, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jede Rede auf dem Munde
von zwei oder drei Zeugen bestehe“. Wenn nun Gott durch den Mund von zwei oder drei Zeugen
jedes Wort feststellen will, warum suchen wir das Zeugnis von mehr als zwei oder drei Zeugen,
um in zweifelhaften Fällen die Wahrheit zu finden? Niemand kann doch einen so guten, geschweige
einen besseren Grund legen, als der Herr gelegt hat. Dieses macht mich einigermafsen bedenklich
in der Anwendung des Verfahrens, das die Gesetze Englands vorschreiben. Saget mir also, bitle,
was darauf zu antworten sel.
Kapitel XXXH.
Kanzler. Die Gesetze Englands, mein Prinz, widersprechen diesen Stellen der hl. Schrift, um
die Ihr Euch Sorge macht, durchaus nicht; sie verfolgen nur eine etwas abweichende Methode,
die Wahrheit zu finden und zu enthüllen. Widerspricht denn etwa jene Bestimmung über die
allgemeinen Concilien, welche vorschreibt, dafs Cardinäle nicht anders als auf die Aussage von
zwölf Zeugen verurteilt: werden dürfen, der Forderung zweier Zeugen? Wenn das Zeugnis von
zweien wahr ist, so mufs a fortiori das Zeugnis von zwölfen wahr sein. Denn eine Rechtsregel
sagt: das Gröfsere enthält das Kleinere in sich. Wenn ein Angeklagter beweisen will, dafs er zur
Zeit der ihm zur Last gelegten That anderswo war, während der Gegner seine Anklage durch zwei
oder drei Zeugen bekräftigt hat oder sie zu bekräftigen bereit ist, muls man da nicht verlangen,
dafs er mehr als zwei Zeugen vorbringe? Oder, wenn jemand eine Anzahl Zeugen des Meineids
zeiht, ist es dann nicht recht, dafs er eine noch gröfsere Anzahl Zeugen gegen sie stelle ? So zeigt
sich, dafs nicht in allen Fällen zwei oder drei Zeugen als genügend gelten können. Der Sinn
jener Schriftstelle ist, dafs eine geringere Zahl als zwei nicht als hinreichend erachtet werden darf,
um die Wahrheit in zweifelhaften Fällen zu beweisen. Dafs andrerseits die Wahrheit zuweilen