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Kapitel V.
Wie könntet Ihr aber auch die Gerechtigkeit lieben, wenn Ihr nicht eine gewisse Kenntnis
von den Gssetzen erwerbt, in denen sich dieselbe offenbart? das Unbekannte pflegt nicht nur nicht
geliebt, sondern sogar verschmäht zu werden. Wenn z. B. ein Metaphysiker zu einem Naiur-
kundigen, der sich nie um abstrakte Wissenschaften gekümmert hat, sagt, seine Wissenschaft
betrachte die Dinge abgesondert von jeder Materie und Bewegung, nur in Rücksicht auf ihr Wesen
und ihren Begriff; oder wenn der Mathematiker sagt, seine Wissenschaft betrachte die Dinge zwar
ihrem Wesen nach an Materie geknüpft und in Bewegung, aber ihrem Begriff nach davon ab-
gesondert, so wird jener Naturkundige, der niemals irgendwelche Dinge kennen gelernt hat, die
von Materie und Bewegung, sei es dem Wesen oder dem Begriff nach, abgesondert sind, diese
Philosophen verachten und sich über ihre Wissenschaften, die doch viel vornehmer sind als die
seine, lustig machen, aus keinem andern Grunde, als weil er sie nicht versteht. So werdet auch
Ihr, Prinz, Euch wundern, wenn Ihr einen des englischen Rechtes Kundigen sagen hört, dafs ein
Halbbruder des Vaters Gut nicht von dessen Sohne erben kann, ein solches vielmehr auf die leibliche
Schwester des letzteren übergeht oder durch Heimfall an den ursprünglichen Verleiher zurück-
gelangt. Denn Ihr kennt nicht die Ursache dieses Gesetzes; einen im englischen Recht Erfahrenen
hingegen stört dieser Fall durchaus nicht. (Die Ausschliefsung des Halbbluts vom Erbe wurde 1834
aufgehoben.) Darum sagt man auch: Ars non habet inimicum nisi ijgnorantem. — Aber fern sei
es von Euch, Prinz, dafs Ihr ein Feind der Gesetze des Reiches sein solltet, zu dessen Thron Ihr
berufen seid, oder dafs Ihr sie verschmäht, während doch die oben erwähnte Stelle der Schrift
Euch ermahnt, die Gerechtigkeit zu lieben. Immer wieder, edler Prinz, beschwöre ich Euch, dafs
Ihr die Gesetze Eures väterlichen Reiches studiert, nicht nur um die erwähnten Nachteile zu ver-
meiden, sondern auch aus folgendem Grunde. Sobald der menschliche Geist, der von Natur das
Gute erstrebt, und nichts erstreben kann als insofern es ihm gut erscheint, durch Belehrung das
Gute erkannt hat, freut er sich darüber und liebt es immermehr, je mehr er sich in Gedanken
damit beschäftigt. Wenn Ihr daher die Gesetze, die Ihr jetzt noch nicht kennt, durch Studium
kennen gelernt haben werdet, so werdet Ihr sie lieben, denn sie sind vortrefflich; und je mehr
Ihr sie in Eurem Geiste erwägt, desto köstlicheren Genufs werdet Ihr davon haben. Reifset doch
alles, was man liebt, durch die Vertrautheit mit demselben den Liebenden zu der Natur desselben
hin. So verwandelt das Reis eines Birnbaumes, das einem Apfelbaum aufgepfropft wird, sobald
es mit demselben verwachsen ist, die Natur des Apfelbaumes in die eines Birnbaumes, so dafs
derselbe Birnen als Früchte trägt. So erzeugt auch die Tugend, die man übt, eine Gewohnheit,
so dafs der Ausübende nach jener Tugend benannt wird. Ebenso werdet auch Ihr, mein Prinz, nach-
dem Ihr Euch in der Gerechtigkeit geübt und Euch gewissermafsen in das Gewand des Gesetzes
gehüllt habt, mit Fug der Gerechte genannt werden, und es wird einst von Euch heifsen: „Du hast
Gerechtigkeit geliebt und Ungerechtigkeit gehafst, darum hat Dich der Herr gesalbt mit dem Oel
der Freude vor allen deinen Genossen. den Königen der Erde“. (Psalm 45, 7).
Kapitel VI.
Sind nun dieses, durchlauchtigster Prinz, nicht Gründe genug, um Euch anzuspornen, dafs
Ihr die Anfangsgründe des Rechts studiert? Möget Ihr, solange Ihr noch jung seid und Eure Seele
gewissermafsen eine unbeschriebene Tafel ist, dieselbe mit solchen Dingen erfüllen, damit sie nicht