Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

VI 
Aus dem Vorwort zur ersten und zweiten Auflage. 
Auf vielen Gebieten hat man sich längst sogar der Nennung des 
göttlichen Namens entwöhnt. Ans sittlichem Gebiete wollte das bisher 
noch nicht gelingen. Zu innig schien die sittliche Ordnung mit Gott ver 
knüpft. Und doch, will der moderne Naturalismus einen Schein wissen 
schaftlicher Berechtigung haben, so muß er zeigen, daß er eine dieses 
Namens werte sittliche Ordnung herzustellen vermag. Denn ohne sitt 
liche Ordnung, ohne Gehorsam gegen die rechtmäßige Obrigkeit, ohne 
Achtung vor dem Leben, dem Eigentum, dem guten Rufe des Neben 
menschen, ohne Nächstenliebe, Mäßigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue ist 
ein menschenwürdiges, geordnetes Zusammenleben eine Unmöglichkeit. 
Wer auch wissenschaftlich mit sich selbst im klaren sein will, muß deshalb 
zu zeigen vermögen, daß seine Weltanschauung eine sittliche Ordnung zu 
begründen imstande ist, welche der allgemeinen Ansicht aller unbefange 
nen Menschen und den tatsächlichen Bedürfnissen der menschlichen Ge 
sellschaft entspricht. Das fühlen auch die Anhänger der monistischen Ent 
wicklungslehre. Deshalb suchen sie von ihrem Parteistandpunkt aus, so 
gut cs eben geht, eine sittliche Ordnung mit Pflichten und Rechten zu 
wege zu bringen. 
Dem gegenüber stehen wir ganz und voll auf dem Standpunkt des 
Theismus, der die Welt als das Werk des persönlichen, allniächtigen und 
allweisen Schöpfers ansieht. Übrigens haben wir auch die wissenschaft 
lichen Gründe für die Berechtigung dieses Standpunktes kurz namhaft 
gemacht. Von dem eigentümlich christlichen Standpunkt sehen wir in 
unsern Ausführungen ab. In welchem Verhältnis der rein philosophi 
sche Standpunkt zum christlichen stehe, erklären wir in der Einleitung. 
Wir bauen auf Grundlagen, die jeder vernünftige Mensch, ob Christ oder 
Nichtchrist, bei folgerichtigem Denken anerkennen muß. Um so zuver 
sichtlicher können wir dies aussprechen, als die Hauptgrundsätze, von 
denen wir ausgehen, der griechischen und römischen Philosophie, an 
erster Stelle den Schriften des größten Denkers des Altertums, des Ari 
stoteles, und denen seines genialen Erklärers Thomas von Aquino ent 
lehnt sind. 
Wir wissen zwar wohl, daß uns dieses offene Bekenntnis über un 
sern Standpunkt in manchen Kreisen die wissenschaftliche Existenzberech 
tigung raubt. Mit dem Schlagwort „theologisch" wird man uns bei 
seite legen. Doch wer so handelt, zeigt nur, daß er nichts weniger als 
„voraussetzungslos" ist. Wer aufrichtig die Wahrheit sucht, der wird 
auch den Gegner anhören, ihm Schritt für Schritt in seinen Unter 
suchungen folgen und sich von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Ge 
sagten zu überzeugen bemühen. Auf diese gewiß nicht unbillige Forde 
rung hat uns Dr. Jodl (Archiv für systematische Philosophie, 1895) ab 
lehnend geantwortet: „Was der Verfasser von kritisck)en Lesern seines
	        
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