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Aus dem Vorwort zur ersten und zweiten Auflage.
Auf vielen Gebieten hat man sich längst sogar der Nennung des
göttlichen Namens entwöhnt. Ans sittlichem Gebiete wollte das bisher
noch nicht gelingen. Zu innig schien die sittliche Ordnung mit Gott ver
knüpft. Und doch, will der moderne Naturalismus einen Schein wissen
schaftlicher Berechtigung haben, so muß er zeigen, daß er eine dieses
Namens werte sittliche Ordnung herzustellen vermag. Denn ohne sitt
liche Ordnung, ohne Gehorsam gegen die rechtmäßige Obrigkeit, ohne
Achtung vor dem Leben, dem Eigentum, dem guten Rufe des Neben
menschen, ohne Nächstenliebe, Mäßigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue ist
ein menschenwürdiges, geordnetes Zusammenleben eine Unmöglichkeit.
Wer auch wissenschaftlich mit sich selbst im klaren sein will, muß deshalb
zu zeigen vermögen, daß seine Weltanschauung eine sittliche Ordnung zu
begründen imstande ist, welche der allgemeinen Ansicht aller unbefange
nen Menschen und den tatsächlichen Bedürfnissen der menschlichen Ge
sellschaft entspricht. Das fühlen auch die Anhänger der monistischen Ent
wicklungslehre. Deshalb suchen sie von ihrem Parteistandpunkt aus, so
gut cs eben geht, eine sittliche Ordnung mit Pflichten und Rechten zu
wege zu bringen.
Dem gegenüber stehen wir ganz und voll auf dem Standpunkt des
Theismus, der die Welt als das Werk des persönlichen, allniächtigen und
allweisen Schöpfers ansieht. Übrigens haben wir auch die wissenschaft
lichen Gründe für die Berechtigung dieses Standpunktes kurz namhaft
gemacht. Von dem eigentümlich christlichen Standpunkt sehen wir in
unsern Ausführungen ab. In welchem Verhältnis der rein philosophi
sche Standpunkt zum christlichen stehe, erklären wir in der Einleitung.
Wir bauen auf Grundlagen, die jeder vernünftige Mensch, ob Christ oder
Nichtchrist, bei folgerichtigem Denken anerkennen muß. Um so zuver
sichtlicher können wir dies aussprechen, als die Hauptgrundsätze, von
denen wir ausgehen, der griechischen und römischen Philosophie, an
erster Stelle den Schriften des größten Denkers des Altertums, des Ari
stoteles, und denen seines genialen Erklärers Thomas von Aquino ent
lehnt sind.
Wir wissen zwar wohl, daß uns dieses offene Bekenntnis über un
sern Standpunkt in manchen Kreisen die wissenschaftliche Existenzberech
tigung raubt. Mit dem Schlagwort „theologisch" wird man uns bei
seite legen. Doch wer so handelt, zeigt nur, daß er nichts weniger als
„voraussetzungslos" ist. Wer aufrichtig die Wahrheit sucht, der wird
auch den Gegner anhören, ihm Schritt für Schritt in seinen Unter
suchungen folgen und sich von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Ge
sagten zu überzeugen bemühen. Auf diese gewiß nicht unbillige Forde
rung hat uns Dr. Jodl (Archiv für systematische Philosophie, 1895) ab
lehnend geantwortet: „Was der Verfasser von kritisck)en Lesern seines