§ 5. Von den irasziblen Leidenschaften im besondern.
87
Die Furcht kann verschiedener Art sein, je nachdem sie sich auf
unser eigenes Handeln oder auf äußere Dinge als ihren Gegen
stand bezieht. Ist unser eigenes Handeln Gegenstand unserer
Furcht, so wird diese vor dem Handeln zur Zaghaftigkeit oder
zur Scham (Verschämtheit, Schüchternheit, Blödigkeit). Die Zag
haftigkeit besteht in der Furcht vor der Größe oder Schwierigkeit
der vorzunehmenden Handlung, die Scham (xuckvr) in der Furcht vor
der Schimpflichkeit derselben. In diesem Sinne sagen wir, jemand
schäme sich, etwas zu tun oder zu sagen. Nach geschehener Tat entsteht
die Beschämung (verecimdia), d. h. die Furcht vor Einbuße an
fremder Achtung wegen der begangenen schimpflichen Tat. Das Kind
schämt sich, wenn es etwas Schimpfliches getan hat, und sucht infolge
dessen die Verborgenheit. Sowohl Scham als Beschämung äußern sich
durch Errötens Beide Affekte können, obwohl sinnlicher Natur, nur
im Menschen entstehen, weil sie die geistige Erkenntnis voraussetzen.
Das Tier verrät nie Scham und errötet nie. So ist (S. &J---32 *) die
Scham ein Beweis, daß im Menschen ein höheres Prinzip waltet,
welches sich vor gewissen Handlungen wie vor Erniedrigungen seines
angebornen Adels sträubt und sie deshalb fremden Blicken zu verbergen
sucht. Hätten wir nicht das Bewußtsein unserer geistigen Würde, so wäre
das Schamgefühl unerklärlich und zwecklos. Fassen wir dagegen die
Würde des Menschen als Vernunstwesen ins Auge, so erkennen wir
sofort die Zweckmäßigkeit desselben. Es ist gewissermaßen als Schild
wache vor die stärksten sinnlichen Triebe gestellt. Selbst sinnlicher Natur,
wird es bei den kleinsten Gefahren, den ersten Regungen der niederen
Triebe wach und mahnt durch sein unwillkürliches Sträuben die Ver
nunft an ihre Pflicht, zu überlegen, was sich für den Menschen als Ver
nunftwesen geziemt, und den Willen, nur so weit die sinnlichen Triebe
zu befriedigen, als sie den Anforderungen der Vernunft entsprechen.
Natürlich kann das Schamgefühl, wie alle andern Gefühle, gepflegt und
vermehrt oder abgestumpft werden.
Bezieht sich die Furcht auf äußere größere Übel, denen wir nur
schwer zu widerstehen vermögen, so verzweigt sie sich in drei Unterarten.
Der Schrecken ist die Furcht wegen eines unerwartet und plötzlich
drohenden Übels. Ähnlich wie die Trauer, bringt er eine Lähmung des
willkürlichen Bewegungsapparates und einen krampfhaften Zustand der
gefäßverengenden Muskeln hervor, aber beides in höherem Grade und
plötzlich. Der Schrecken lähmt den Menschen, macht ihn unbeweglich
1 Der deutsche Ausdruck Scham wird sowohl für puckor als vereounckis. ge
braucht.
^ Die in Klammern befindlichen Zahlen verweisen immer auf ftühere Seiten
dieses Werkes. Steht im zweiten Band eine I davor, so ist der erste Band gemeint.