Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

§1. Vorbegriffe. — §2. Beweise s. d. Best. d. Menschen zur vollk. Glückseligkeit. 117 
Vermögens, sondern die Voraussetzung, Grundlage und Wurzel derselben. 
Er geht deshalb auch nicht mit der Tätigkeit vorüber, sondern bleibt be 
ständig wie die Natur des Dinges selbst. 
Es gibt verschiedene Arten von Naturtrieben, so z. B. den Selbst 
erhaltungstrieb, der das Wohl des Individuums, den Ge - 
s ch l e ch t s t r i e b, der die Erhaltung der Art zum Zwecke hat. In ähn 
licher Weise gibt es auch in: höheren Teil der Seele einen Glückselig- 
keitstrieb,d. h. eine angeborne, dauernde Neigung nach dem voll 
kommenen Besitz alles Guten und Wahren, oder was dasselbe ist, einen 
inneren Drang nach der dem Menschen zukommenden Vollkommenheit. 
Was berechtigt uns, einen solchen Naturtrieb nach vollkommener Glück 
seligkeit anzunehmen? 
a) Vor allem die Natur der höchsten Fähigkeiten des 
Menschen. Wie alle Fähigkeiten, so streben auch Verstand und Wille von 
Natur aus nach ihrer Vollkommenheit oder nach dem vollkommenen Be 
sitz des ihnen eigentümlichen Gegenstandes oder Formalobjektes. Wel 
ches ist das Formalobjekt des Verstandes und Willens? Das Wahre 
und Gute als s o l ch e s, d. h. nicht dieses oder jenes konkrete Wahre 
und Gute, sondern das Wahre und Gute überhaupt. Mer jede endliche, 
beschränkte Wahrheit und über jedes endliche, beschränkte Gut hinaus 
streben Verstand und Wille nach mehr Wahrheit, nach einem größeren 
Gut. Folglich werden sie erst dann zum Abschluß ihres Strebens ge 
langen, wenn sie in den Besitz alles Wahren und Guten gelangt sind. 
Der Besitz alles Guten und Wahren ist aber die Glückseligkeit. Also haben 
Verstand und Wille von Natur aus den Trieb nach Glückseligkeit. 
Jedes der Vervollkommnung fähige Wesen, sagt der hl. Bonaventura, 
strebt von Natur aus nach seiner Vollkommenheit, es will das seiner 
Natur entsprechende Gute vollkommen erlangen. Nun aber ist die mensch 
liche Seele von Natur aus fähig, durch die wahre Glückseligkeit vervoll 
kommnet zu werden. Also strebt jede menschliche Seele nach der vollkom 
menen Glückseligkeit\ 
b) Was sagt uns ferner die Erfahrung? Was liegt allem mensch 
lichen Streben und Ringen bewußt oder unbewußt zugrunde? Der Trieb 
nach voller Befriedigung, der Wunsch, möglichst alles Mel von sich zu 
entfernen und alles Gute zu besitzen. „Nach einem glücklichen, goldenen 
Ziel sieht man sie rennen und jagen." Was liegt dem hastigen Streben 
zugrunde, mit dem der Ehrgeizige nach Ruhm und Ehre, der Habsüch 
tige nach Geld und Gut, der Wollüstige nach Befriedigung seiner un 
reinen Begierden, der Wissensdurstige nach Erweiterung seiner Kennt- 
1 8. B o n a v., In 4, dist. 49, q. 2, n. 1.
	        
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