§ 2. Kein geschaffenes Gut vermag den Menschen vollkommen zu beglücken. 129
Ob es Wohl Gizycki gewagt hätte, einem Sterbenden mit solchen
Trostgründen zu nahen? Würde er wohl einen von vieljährigem Siech
tum geplagten Materialisten mit den Worten getröstet haben: „Denke
doch, daß die Krankheit dir neue Pflichten bringt und deren Erfüllung
dich heiligen und stärken wird"? Ja, was bedeutet denn „Pflicht" und
„Heiligung" im Munde eines Menschen, für den mit dem Tode alles
aus ist? Und wenn nun die letzte Stunde naht und ihn unerbittlich von
allem, was sein Herz liebend umfaßte, für immer losreißt, da sage man
ihm: „Freund, tröste dich mit dem Gedanken an dein wohlverbrachtes
Leben und deine Liebe zu den Überlebenden und deren Kindern und
Kindeskindern." Wir möchten glauben, Gizycki würde sich gescheut
haben, einen sterbenden Freund mit solchen Trostgründen zu behelligen.
Die eignen sich bloß als Lückenbüßer in einer „Ethik für Gebildete",
für das wirkliche Leben sind sie unbrauchbar.
Und nun gehe man erst hinaus unter die großen Massen, deren Leben
nichts ist als eine ununterbrochene Kette von Mühen, Leiden und Ent
behrungen, und denen man allen Glauben an das Jenseits geraubt; man
fordere sie aus, die schweren tagtäglichen Opfer ihres harten Berufes auf
sich zu nehmen aus reiner Liebe zur Pflicht, um des „süßen Bewußtseins
willen, das Rechte getan zu haben". Man lese ihnen die ethischen Rhap
sodien Gizyckis vor, oder man sage ihnen mit D. F. Strauß: „Wer
für sich selbst noch der Aussicht auf künftige Vergeltung als einer Trieb
feder bedarf, der steht noch im Vorhofe der Sittlichkeit... Die Seligkeit
ist kein von der Tugend verschiedener Lohn, sondern diese selbst^." Wer
den solche Redensarten auf die Massen Eindruck machen, denen man die
Überzeugung beigebracht, daß nach dem Tode vom Menschen nichts mehr
übrig bleibe als vom Assen?
4. Alle genannten irdischen Güter vermögen auch in ihrer Ge
samtheit nicht den Menschen vollkommen zu beglücken. Die Gründe,
um derentwillen die geschaffenen Güter zur Befeligung des Menschen
nicht ausreichen, sind ihrem i n n e r st e n Wesen entnommen, können also
1 Der alte und der neue Glaube, 84. An die obigen Worte fügt Strauß die
Bemerkung: Die Seligkeit „ist nicht die Folge von unserer Herrschaft über die
Triebe, vielmehr fließt für uns die Kraft, diese zu bezwingen, aus der Seligkeit,
die wir in der Erkenntnis und Liebe Gottes genießen." Wir führen diese Worte
als charakteristisch an. Strauß behält den Ausdruck Gott und alle übrigen her
kömmlichen Ausdrücke bei, schiebt chnen aber einen ganz andern Sinn unter. Unter
Gott versteht er das Universum. Wir halten ein solches Verfahren für wenig
ehrenhaft, weil es nur dazu dient, die herkömmlichen sittlichen und religiösen Be
griffe zu fälschen. Es ist Bauernfängerei in der Wissenschaft! Auch G. von
Gizycki bedient sich in seiner Moralphilosophie dieser Taktik. Mit vielen Kraft
stellen aus der Heiligen Schrift und der „Nachfolge Christi" sucht er wie mit
Feigenblättern die Blößen seiner ganz materialistischen Sittenlehre zu verhüllen.
Ca ihr ein, Moralphilosophie. I. 0. Ausl. 9