§ 5. Widerlegung einiger Einwendungen.
137
Kann somit der Mensch in diesem Erdenleben sein vollkommenes
Glück nicht finden, so folgt, daß dieses Glück im un st erblichen Le
ben jenseits des Grabes seiner wartet. Irgendwann und irgendwo muß
er zu seinem vollen Glück gelangen können. Da dies im irdischen Leben
nicht der Fall ist, so muß ihm das Glück im unsterblichen Leben des Jen
seits zuteil werden.
Fürwahr, hat der Mensch nichts zu hoffen als das Elend dieses
Lebens, dann werden ihm seine edelsten Vorzüge zum Fluch. Was nützt
ihm schließlich die Größe und der Adel seines Verstandes und Willens,
wenn er dem Tiere gleich dazu verurteilt ist, sich in der Spanne Zeit hier
auf Erden häuslich einzurichten und dann für immer in Staub zu
sinken? Wäre es dann nicht das ratsamste, möglichst rasch und möglichst
viel Erdengenuß zu erhaschen und, sobald das Leben nichts mehr zu bie
ten vermag, diesem sinnlosen Treiben ein Ende zu machen?
§ 5. Widerlegung einiger Einwendungen.
Gegen die Behauptung, die Glückseligkeit des Menschen bestehe in der
vollkommenen Erkenntnis und Liebe Gottes, läßt sich einwenden, eine
solche Glückseligkeit entspreche wohl einem reinen Geiste, aber nicht dem
Menschen, der aus Leib und Seele zusammengesetzt ist und
erst dann wahrhaft als Mensch sein Glück gefunden hat, wenn seine
leiblichen und geistigen Begehrungen vollkommen befriedigt sind.
Allein durch unsere Lehre ist die Beseligung des sinnlichen Teiles
nicht ausgeschlossen. Wir behaupten nur, das Wesen der vollkomme
nen Glückseligkeit des Menschen bestehe in der Erkenntnis und der damit
verbundenen Liebe Gottes 1 . Daraus folgt allerdings, daß sich die Be
seligung des sinnlichen Teiles nicht als einfachhin notwendig zur Selig
keit des Menschen nachweisen läßt, aber nicht, daß sie unmöglich sei. Da
wir bewiesen haben, daß die vollkommene Glückseligkeit erst im zukünf
tigen Leben erreicht werden kann, hängt die Entscheidung der ange
regten Frage davon ab, ob die Auferstehung des Leibes auch in
der rein natürlichen Ordnung stattfände oder nicht.
Durch die Offenbarung wissen wir, daß in der gegenwärtigen über
natürlichen Ordnung, in die uns Gottes freie Erbarmung erhoben
hat, der Leib einst vom Tode erstehen und in einem Zustande der Ver
klärung an der Seligkeit teilhaben wird. Ob er aber in der rein
1 Auf die Streitfrage, ob das Wesen der Glückseligkeit bloß in der E r -
kenntnis Gottes oder in der Erkenntnis und Liebe Gottes bestehe, gehe
hier nicht näher ein, weil sie wenig praktische Bedeutung hat. Vgl. darüber unsere
Philosophia moralis in usum scholarum (ed. 12) n. 51 sqq.