4. Kap. Unrichtige Ansichten über das Endziel des Menschen. IZg
unmittelbaren Fähigkeit eines jeden bestimmen. Der Selige
mag vielleicht erkennen, daß, w e n n er sich größere Verdienste auf Erden
erworben hätte, er auch durch Gottes Beistand zu einem höheren Grade
der Seligkeit gelangt wäre; aber er weiß auch, daß er tatsächlich einen
höheren Grad nicht verdient hat und daß er deshalb auch des nötigen
Beistandes dazu entbehrt. Zudem ist sein Wille in vollkommener Über
einstimmung mit dem des höchsten Herrn aller Dinge. So ruht er lie
bend und befriedigt in dem Besitze Gottes, der ihm zuteil geworden L
Wenn wir von Ruhe im Besitze Gottes reden, so darf man dieselbe
nicht mit Untätigkeit verwechseln. Unter der Ruhe der Seligen
verstehen wir die volle Befriedigung und Freude, die sich aus der Gegen
wart und dem Besitze des höchsten Gutes ergibt. Diese Freude aber ist
Tätigkeit, vollkommene Tätigkeit. Die Tätigkeit in ihrer Vollendung
ist eben nicht mehr eine Hinbewegung auf ein erst zu erreichendes Gut,
sondern innige, lebensvolle Erfassung des gegenwärtigen, vollkommenen
Gütest
Viertes Kapitel.
Unrichtige Ansichten über das Endziel oder das höchste Gut
des Menschen.
Nichts ist geeigneter, eine Lehre in helleres Licht zu stellen, als ihr
Vergleich mit andern ihr widersprechenden Ansichten. Wie eifrig schon
in der griechischen und römischen Philosophie die Frage nach dem höchsten
Gute (summum bonum) des Menschen besprochen wurde, geht daraus »
hervor, daß bereits Lactantius^ nicht weniger als zehn verschiedene
Ansichten darüber aufzählt. Auch die neuere Philosophie hat ihren Bei
trag an neuen Meinungen geliefert.
Bei den meisten Philosophen fällt das höchste Gut und die oberste
Norm des Sittlichen zusammen. Wir werden deshalb ihre Ansichten
später bei der Untersuchung über die Sittennorm darlegen. Hier wollen
wir nur zwei Meinungen prüfen, die für uns von besonderem Interesse
sind, nämlich die Lehre Kants und der Sozialeudämonisten und Evo-
lutionisten über das höchste Gut.
* Suarez, De ultimo fine disp. 10, sect. 3, n. 4.
2 Vgl. 8. Thom, 8. th. 1, 2, q. 31, a. 1 ad 2: Licet in eo, qui iam con-
secutus est bonum, in quo delectatur, cesset motus exsecutionis,
quo tendit ad finem, non tarnen cessat mötus appetitivae partis,
quae sicut prius desiderabat non habitum, ita postea delectatur
i n h a b i t o (f. oben S. 83).
3 Lib. 3, divin. Institut, c. 7.