Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

140 1- Teil. 2. Buch. 4. Kap. Unrichtige Ansichten über das Endziel des Menschen. 
§ 1. Das höchste Gut nach derLehre Kants. 
Nach Kant ist das notwendige Objekt jedes durch das moralische 
Gesetz bestimmbaren Willens „die Bewirkung des höchsten 
Gutes in der Welt". Dieses höchste Gut besteht aus zwei Ele 
menten, der Heiligkeit, d. h. der völligen Angemessenheit der Ge 
sinnung zum moralischen Gesetz, nnd der daraus sich ergebenden Glück 
seligkeit^. h. „dem Zustand eines Wesens, dem im Ganzen seiner 
Existenz alles nach Wunsch und Willen geht". 
Die Heiligkeit ist eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges 
Wesen der Sinnenwelt in irgendeinem Zeitpunkt seines Daseins fähig 
ist. Da sie gleichwohl als notwendig gefordert wird, so kann sie nur 
„in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen An 
gemessenheit angetroffen werden". Dieser Progressus ist aber nur mög 
lich unter Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele. Folglich 
ist die Unsterblichkeit ein Postulat der praktischen Vernunft\ Der 
Sittlichkeit muß die Glückseligkeit proportioniert sein. Da das 
moralische Gesetz die Harmonie zwischen der Gesinnung (Heiligkeit) und 
der Weltordnung (Glückseligkeit) zwar notwendig fordert, aber selbst 
nicht begründen kann, so muß eine Ursache dieser Harmonie existieren. 
Diese Ursache kann aber keine andere sein als Gott. Also ist auch das 
Dasein Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft 
Die Grundlage dieser Theorie ist die Behauptung Kants: „Die Be 
wirkung des höchsten Gutes in der Welt ist das notwendige Objekt eines 
durch das moralische Gesetz bestimmbaren Willens." Wer diesen Grund 
satz in Abrede stellt, stößt das Fundament der ganzen Theorie um. Nun 
wird aber für denselben auch nicht der geringste Beweis erbracht. Er 
wird einfach als Axiom hingestellt, was sicher den Grundsätzen der 
„kritischen Philosophie" wenig entspricht. Er ist auch zweifellos un 
richtig. Denn welcher Mensch hat da) Bewußtsein, daß sein Wille die 
Bewirkung „des höchsten Gutes in de^-Welt" zum notwendigen 
Gegenstände habe? 
1 Kritik der praktischen Vernunft, 243. Unter P o st u l a t der praktischen 
Vernunft versteht Kant „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen 
Satz, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrenn 
lich anhängt" (ebd.). Kant scheint übrigens selbst das Postulat der Unsterblichkeit 
bloß als eine regulative Idee aufgefaßt zu haben, die nur für unser praktisches 
Verhalten Bedeutung hat. Auf einem Fragment aus der Mitte der 90 er Jahre 
schreibt er: der Glaube an ein zukünftiges Leben „ist nur ein Glaube vom zweiten 
Rang; denn es ist nicht notwendig, daß wir existieren, wohl aber, daß — solange 
wir leben — wir uns des Lebens würdig verhalten" (zitiert bei Messer, Kants 
Ethik [1904], 260, A. 3). 
2 A. a. O. 246.
	        
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