§ 2. Das höchste Gut nach der Lehre der Sozialeudämonisten u. Evolutionisten. 147
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zunächst wirklich ein entsetzliches. Aber," fährt er fort, „man
muß sich eben in das Unvermeidliche mit blinder Ergebung fügen und sich
einen Ersatz für den kirchlichen Un st erblichkeitsglauben
schaffen." Und worin besteht dieser Ersatz? Hören wir. „Wem es auf
der einen Seite noch nicht genügt, die ewigen Gedanken des Universums (was
heißt das vom Straußischen Standpunkt?), des Entwicklungsganges und der
Bestimmung der Menschheit in sich beleben zu können (!); wer lieben und
verehrten Verstorbenen nicht im eigenen Innern das schönste Fortleben und
Fortwirken zu schaffen weiß; wem neben der Tätigkeit für die Seinigen, der
Arbeit in seinem Beruf, der Mitwirkung zum Gedeihen seines Volkes wie
zum Wohle seiner Mitmenschen, und dem Genusse des Schönen in Natur und
Kunst — wem daneben nicht auf der andern Seite das Bewußtsein aufgeht,
daß er selbst nur zum zeitweiligen Teilhaber an alledem berufen sein kann;
wer es nicht über sich gewinnt, schließlich mit Dank dafür, daß er das alles
eine Weile hat mitbewirken, mitgenießen und auch mitleiden dürfen s!), zu
gleich aber mit dem frohen Gefühl des Losgebundenwerdens von einem in die
Länge doch ermüdenden Tagwerke aus dem Leben zu scheiden: nun, den müssen
wir an Moses und die Propheten zurückweisen 4 ."
Also dieses eitle Blendwerk der Einbildungskraft soll die Unsterblichkeit
ersetzen und das nach Glückseligkeit dürstende Herz trösten und aufrichten?
Ob jemand das im Ernst glauben mag? Und nun denke man erst an die
großen Massen der von Leid und Mißgeschick aller Art heimgesuchten und
gedrückten Adamskinder! Wird man mit solchem Wortgeklingel von dem Fort
leben in der Erinnerung, von der Mitarbeit an der Kultur, von dem Genuß
des Schönen und Edeln auch nur eine einzige Träne trocknen oder auch nur
ein gebrochenes Herz aufrichten oder auch nur eine einzige böse Tat hindern?
Vielleicht wird man entgegnen, diese geläuterte Sittenlehre sei nur für die
„veredelte" Menschheit, für die „Aufgeklärten"; die Volksmassen seien noch
durch Religion im Zaum zu halten. Aber die Sittlichkeit ist nicht ein Mo
nopol der „Gebildeten", sondern ein Gemeingut aller Menschen; sie ist demo
kratisch. Es gibt nicht eine Sittlichkeit für die Gebildeten und eine andere
für die Ungebildeten, sondern eine und dieselbe sittliche Ordnung gilt für alle,
weil sie eine wesentliche Aussteuer der menschlichen Natur ist.
Übrigens glaube man nicht allzuviel an die Wirkung der Ideale der Kultur
und des Fortschrittes bei der „ethisch gehobenen" Menschheit. Wenn so edel
angelegte, für alles Hohe und Große empfängliche Naturen wie ein hl. Paulus
und ein hl. Augustinus von sich bekennen, daß sie nur durch den Glauben an
das unsterbliche Leben im Jenseits von den niedrigen Bahnen Epikurs be
wahrt wurden, so darf man unbedenklich annehmen, daß bei unsern Gebilde
ten bloße irdische Ideale keine genügende Stütze des sittlichen Lebens sind.
Tatsächlich ist auch das Leben unserer Kulturheroen vielfach ein beständiger
Konflikt mit den elementarsten Forderungen des Sittengesetzes 1 2 .
1 D. Strauß, Der alte und der neue Glaube, 252—253.
2 Man vgl. beispielshalber I a n s s e n, Zeit- und Lebensbilder 4 ; Baum-
gartner-Stockmann, Goethe, sein Leben und seine Werke 3 . Schopen
hauer hat nur der Lebensphilosophie vieler unserer Gebildeten Ausdruck ver-