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1. Teil. 3. Buch. 1. Kap. Begriff der Sittlichkeit.
Menschheit. Der Ausdruck Gesamtleben kann nichts anderes bedeuten
als die Summe aller Einzelleben, insofern sie sich gegenseitig bedingen
und beeinflussen, und ebenso kann auch die Gesamtsittlichkeit
eines Volkes (nationales Ethos!) oder der Menschheit nichts anderes
bedeuten als die Summe individueller Sittlichkeiten, insofern sie gegen
seitig voneinander abhängen. Das sittliche Verhalten eines jeden Men
schen wird zwar in tausendfacher Weise von der umgebenden Gesellschaft
beeinflußt, sowohl im Guten als im Bösen; trotzdem bleibt die Sittlich
keit im eigentlichen Sinne etwas wesentlich Persönliches, Individuelles,
weil nur die Einzelpersönlichkeit Verstand und freien Willen hat.
Es ist deshalb die Erweiterung der Jndividualethik zur Sozialethik,
deren sich neuere Schriftsteller^ als eines großartigen Fortschrittes
rühmen, eine Verkennung des wahren Charakters der Sittlichkeit. Aller
dings bleiben sich Hegel, Schleiermacher und andere mit dieser Über
tragung der Sittlichkeit auf das Gesellschaftsleben insofern folgerichtig,
als sie jede Willensfreiheit leugnen und das Individuum zu einem
Rad in dem großen Triebwerk des Weltalls machen. Überhaupt können
die Leugner der Willensfreiheit nur aus Inkonsequenz noch von Sitt
lichkeit reden
3. Durch den eben erklärten Begriff der Sittlichkeit erhält der Be
griff der Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit
neues Licht (S. 89 ff.). Warum kann uns die sittliche Tat mit ihren
guten und bösen Eigenschaften zugerechnet, warum können wir für die
selbe verantwortlich gemacht werden? Weil wir im Zustand des Be
wußtseins waren, den Charakter unserer Handlung kannten, sie mit
Freiheit setzten und dadurch gewissermaßen mit ihren guten und bösen
Eigenschaften uns zu eigen machten. Fehlt eines von diesen Momenten,
völkerpsychologische Erwägungen nicht außer acht gelassen werden, aber man darf
sich nicht verleiten lassen, die Völkerpsychologie von der Jndividualpsychologie völlig
abzutrennen und zu einer eigenen Wissenschaft erheben zu wollen. Übrigens leugnet
Wundt das Dasein einer substantiellen, beharrenden Seele im Menschen und wird
dadurch unfähig, das individuelle Selbstbewußtsein in irgendwie befriedigender
Weise zu erklären.
1 Z. B. Ziegler, Sittliches Sein und sittliches Werden, 112 fs., 134.
2 Hegel heftet das Wort „sittlich" oft sinnlos an alle möglichen Dinge. Der
objektive Geist auf der zweiten Stufe ist Moralität, auf der dritten Sittlichkeit, in
welcher das Subjekt mit der sittlichen Substanz: der Familie, der bürgerlichen Ge
sellschaft und dem Staate sich eins weiß. Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen
Idee, die selbstbewußte sittliche Substanz, als der zu einer organischen Wirklichkeit
entwickelte sittliche Geist. Durch Hegel ist in weiten Kreisen die Gewohnheit auf
gekommen nebelhafte Ausdrücke zu gebrauchen und das Wort sittlich an alle mög
lichen Dinge anzukleben. So hört man vom Staate oder vom Sozialismus als
einer „sittlichen Idee" reden, von der sittlichen Idee der Kunst. Was bedeutet hier
„sittlich"?