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1. Teil. 3. Buch. 2. Kap. Der Moralpositivismus.
sittlichen Handlungen in Beziehung stehen. So sind z. B. die Fertig
keiten (habitus) etwas Physisches in uns, das durch Übung erworben
wird; aber manche von ihnen heißen sittlich, weil sie die Wirkung des
sittlichen Handelns sind, und vorzüglich weil sie zum sittlichen Handeln
befähigen.
Zur zweiten Art sittlicher Dinge gehören jene, die ihrem ganzen
Sein nach nichts Physisches, sondern nur Beziehungen und Verhältnisse
sind, welche der denkende Geist als notwendig erfaßt. Solcher Art ist
z. B. die Verpflichtung, die wir als bleibende Wirkung eines Vertrages
oder eines Gebotes ansehen. Wer ein Gut kauft, hat nach Abschluß des
Vertrages das Recht, das Gut als sein Eigentum anzusehen und zu
behandeln, und jeder andere hat die Pflicht, dieses Recht zu achten.
Dieses Recht und diese Pflicht sind nichts Physisches; es sind vielmehr
Beziehungen der Menschen untereinander, die der Verstand auf Grund
des vorausgegangenen Vertrages und des natürlichen Sittengesetzes als
notwendig erkennt, weil ohne sie ein gedeihliches Zusammenleben nicht
möglich wäre. Der Verstand denkt sich den Vertrag nicht als etwas
einfachhin Vergangenes, sondern faßt ihn als moralisch in bezug aus
seine Wirkung fortdauernd auf, insofern er einsieht, daß jeder Ver
nünftige nach demselben so handeln muß, als ob der Vertrag im Augen
blicke selbst abgeschlossen würdet Selbstverständlich sind das keine will
kürlichen Fiktionen, sondern Beziehungen, die der Verstand als not
wendig zum gesellschaftlichen, geordneten Zusammenleben erfaßt
Die Gesamtheit aller Dinge, die wir als sittlich bezeichnen, machen
die sittliche Ordnung aus. Sie bilden ein zusammenhängendes
System, in welchem das Viele durch gemeinsame, einheitliche Beziehun
gen zusammengehalten wird. Der Mittelpunkt der sittlichen Ordnung
sind die sittlichen Handlungen selbst; um sie herum gruppieren sich alle
andern sittlichen Dinge, welche das sittliche Handeln beeinflussen oder
1 Suarez, De bonitate et malit. act. hum. disp. 1, sect. 3.
2 Nach dem Gesagten sind die Worte „moralisch" und „sittlich" im Deutschen
keineswegs gleichbedeutend. „Moralisch" bedeutet alles, was sich irgendwie
auf die freie Handlungsweise der Menschen bezieht. Es hat
also eine ausgedehntere Bedeutung als das Wort „sittlich". Denn „sittlich" be
zeichnet nur das freie Handeln selb st oder dasjenige, was mit
dem freien Handeln in seiner Beziehung auf sittlich gut
und schlecht unmittelbar zusammenhängt. Wir können deshalb
in vielen Fällen das Wort „moralisch" gebrauchen, wo der Ausdruck „sittlich" un
zulässig ist. So reden wir von einer moralischen Ursache, dem moralischen Urheber
eines Verbrechens, von einer moralischen Gewißheit, einer moralischen Unmög
lichkeit. Wir behaupten, eine moralische Abschätzung sei genügend; jemand sei
physisch und moralisch unfähig, etwas zu tun; er habe eine moralische Niederlage
erlitten. In allen diesen Fällen könnte man nach dem herrschenden Sprachge-
brauche „moralisch" nicht durch „sittlich" ersetzen.