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1.. Teil. 3. Buch. 2. Kap. Der Moralpositivismus.
tivismus oder Pragmatismus, der auf dem Boden der Ent
wicklungstheorie entstanden ist. Wie der Mensch selbst, so steht auch
sein Denken unter dem Gesetz der Entwicklung. Die Denkgesetze sind
aus der Erfahrung entstanden und im Grunde nur praktische Anwei
sungen, um möglichst mühelos durch das Leben zu kommen. Wie sie
in der Erfahrung wurzeln, so ändern sie sich fortwährend mit ihr.
Als Anhänger dieser Richtung sind zu nennen in Amerika William
Iames, in Deutschland W. Jeremias, Hans Vaihinger,
William Stern. Oswald Spengler schreibt: „Das ist es, was
dem abendländischen Denker fehlt und gerade ihm nicht fehlen sollte:
die Einsicht in den historisch-relativen Charakter seiner Resul
tate, die selbst Ausdruck eines und nur dieses einen Daseins
sind, das Wissen um die notwendigen Grenzen der Gültigkeit, die Über
zeugung, daß seine ,unumstößlichen Wahrheiten' und ,ewigen Ein
sichten' eben nur für ihn wahr und in seinem Aspekt ewig sind
und daß es Pflicht ist, darüber hinaus nach denen zu suchen, die der
Mensch anderer Kulturen mit derselben Gewißheit aus sich heraus aus
gesprochen hat. „Es gibt hier nichts Bleibendes und All
gemeines. Allgemeingültigkeit ist immer der Fehlschluß von sich aus
andres" Wie soll man aber über seine eigenen Überzeugungen hinaus
nach denen der Menschen anderer Kulturen forschen, wenn es nichts
Bleibendes und Allgemeingültiges gibt? In Widerspruch mit seinen
Grundsätzen operiert denn auch Spengler stets mit absoluten Wahrheiten.
Wir berücksichtigen in Folgendem nur diejenigen, welche bloß auf
sittlichem Gebiete allgemeingültige und unwandelbare Wahrheiten
leugnen.
Der Moralskeptizismus hat schon in der griechischen Philosophie
Vertreter gefunden. So behauptete Archelaus, der Unterschied zwi
schen recht und unrecht, zwischen gut und bös beruhe nicht auf der
Natur der Dinge, sondern auf menschlicher Satzung". Aristippus
sah den Unterschied zwischen gut und bös als das Ergebnis von Men
schensatzung und Herkommen an". Derselben Ansicht begegnen wir bei
den Sophisten Protagoras, Gorgias und andern, von denen uns
Plato in seinen Dialogen und Aristoteles* berichten. Mit den Sophisten
1 Der Untergang des Abendlandes, a. a. O. S. 31s. Ebd. S. 58 heißt es: „Es
gibt keine ewigen Wahrheiten. Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer und nur
ihrer Zeit, und es gibt nicht zwei Zeitalter, welche die gleichen philosophischen In
tentionen besaßen, sobald von wirklicher Philosophie ... die Rede sein soll."
2 D i 0 g e n. Laert. 1, 16: "EXeye . . . zo dlxaiov Eivai xai zo aioygov ov (pvoei,
u/./.a vöucü.
3 Ebd. 93: Mr/div Eivat cpvoEi dlxaiov )} xaldv i] aioygov, dXXa vofioi xai e'Dei-
4 Ethic. Nie. 1. 5, c. 10, 1134 b 24.