166 1. Teil. 3. Buch. 2. Kap. Der Moralpositivismus.
Fortpflanzung. Aus dem ersten Trieb entstehen durch allmähliche Entwick
lung alle persönlichen, aus dem zweiten alle gesellschaftlichen Neigungen. Der
Kampf zwischen diesen selbstischen und gesellschaftlichen Neigungen bildet das
sittliche Leben. Und da die Biologie lehrt, daß der Selbsterhaltungstrieb als
der ursprüngliche auch der niedrigere sei, so müssen im Widerstreit die egoisti
schen Neigungen den altruistischen weichen. Je weiter die Moral voranschrei
tet, um so mehr wird der Altruismus den Egoismus verdrängen und sich
schließlich zur allgemeinen Bruderliebe entfalten.
In ähnlichen Geleisen bewegen sich heute die allermeisten Anhänger
der Abstammungslehre. Im einzelnen weichen sie weit vonein
ander ab; aber darin kommen sie alle überein, daß die Moral durch all
mähliche Entwicklung entstanden und in fortwährender Umbildung be
griffen sei. E. L a a s 1 findet den letzten Quell unserer moralischen Ur
teile „in den Gefühlen der Menschheit"; alle moralischen Anmutungen
sind Erzeugnisse des menschlichen Gesellschastslebens, hinter denen letzten
Endes nur Bedürfnisse und Erfahrungen stehen. E. H a e ck e l * betrach
tet seine monistische Ethik als einen Teil der Naturwissenschaften. Die
Sitten sind „durch Anpassung der sozialen Säugetiere an die natürlichen
Existenzbedingungen erworben, also auf physikalische Gesetze zurückzu
führen. Unsere moderne Biologie erblickt demnach in den Sitten... die
Wirkung von physiologischen Tätigkeiten des Organismus."
R. v. Jhering^ behauptet: „Es gibt keine Handlung, die an sich
böse wäre." „Der Unterschied von gut und bös liegt nicht in den Dingen
an sich, sondern ergibt sich erst aus der Beziehung der Dinge und Hand
lungen auf die Zwecke der Menschen." Je nach dieser Zweckbeziehung
kann das, was gut ist, böse, und das, was böse, gut werden. Fr. Paul-
s e n leugnet das Dasein einer „allgemein gültigen Moral". „Wie ein
Engländer ein anderer ist als ein Chinese oder ein Neger, und auch ein
anderer sein will und soll, so gilt für jeden unter ihnen auch eine andere
Moral." Noch mehr. Nicht bloß für die verschiedenen Völker, sondern
auch für die verschiedenen Stände und Klassen, „für Männer und Wei
ber, für Künstler und Kaufleute, ja schließlich für jeden einzelnen Men
schen" gibt es eine besondere Morale Gumplowicz meint: „Die
1 Idealistische und Positivistische Ethik (1882) 222.
2 Die Lebenswunder. Volksausgabe. Kap. 18, S. 165.
3 Der Zweck im Recht II (1882) 214.
4 System der Ethik 1 1 2 3 4 * * 7 — 8 19. Im Verlaufe seiner Untersuchungen macht je
doch Pausten Zugeständnisse, welche das Gesagte zum Teil wieder aufheben. Mord,
Ehebruch, Diebstahl sollen allgemein schlecht sein (S. 20). In seinem Werke
„Kant. Sein Leben und seine Lehre,, (1899, 399 ss.) behauptet er, die moderne
Wissenschaft habe im Gegensatz zu Kant die absoluten und unwandelbaren Begriffe
und Grundsätze in Metaphysik, Religion, Dogmatik, Recht und Moral gänzlich auf
gegeben, sie bekenne sich zu der relativistischen oder historisch-genetischen Denkweise.