Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

1. Begriff und Wesen der Leidenschaften. 
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Deshalb sagt der hl. Paulus (Röm. 1,18 ff.) von den Heiden, daß sie trotz 
ihrer Unkenntnis des wahren Gottes unentschuldbar seien, weil sie die 
Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhielten und es nicht wert achteten, 
Gott in der Erkenntnis zu haben. 
Das Untertanenverhältnis, in dem die niederen menschlichen Fähigkeiten 
zu Verstand und Willen stehen, erklärt uns, warum wir die Tätigkeiten des 
Tieres nie als vernünftige Handlungen bezeichnen, während wir beim 
Menschen auch jene Verrichtungen, die ihm mit dem Tiere gemeinsam sind, 
wie essen, schlafen u. dgl., vernünftig nennen, wenn er sie in der rechten Weise 
vornimmt. Denn in dieser Voraussetzung gehen sie auf Veranlassung und 
unter der Leitung der Vernunft vor sich und werden so nach dem treffenden 
Ausdruck des Aquinanten durch Teilnahme vernünftig (rationales 
per participationem) 1 . 
Viertes Kapitel. 
Von den Leidenschaften (Gemütsbewegungen). 
Im vorigen Kapitel haben wir die unmittelbar vom Willen selbst 
gesetzten Tätigkeiten untersucht. Wir hätten jetzt die von ihm befoh 
lenen Akte zu betrachten. Allein das Verständnis der letzteren ergibt 
sich leicht aus dem, was wir über die ersteren gesagt haben. Nur eine 
Art derselben müssen wir eingehender behandeln, die Leidenschaften. 
Die Leidenschaften gehören zwar zum sinnlichen Teile des Menschen 
und sind uns im wesentlichen mit den Tieren gemeinsam. Trotzdem oder 
vielmehr gerade deshalb sind sie für unsere ethischen Untersuchungen von 
großer Wichtigkeit. Die Erkenntnis der Leidenschaften dient zur Be 
stimmung dessen, was die sinnlichen Vermögen im Menschen und im 
Tiere zu leisten imstande sind. Dadurch wird die genaue Grenzbestim 
mung zwischen dem geistigen und sinnlichen Gebiete wesentlich gefördert, 
was angesichts der modernen Bestrebungen, die Grenzen zwischen Men 
schen und Tieren zu verwischen, ein nicht zu unterschätzender Gewinn ist. 
Die Anhänger der Deszendenzlehre benutzen ja gerade die Leidenschaften 
der Tiere, um die Analogien zum geistigen Leben, die sie uns bieten, als 
erstes „Aufdämmern" des Geistes hinzustellen. 
Die Erkenntnis der Leidenschaften ist sodann für die Moralphilo 
sophie unentbehrlich, weil viele sittlichen Tugenden die Regelung der 
Leidenschaften zur Aufgabe haben, folglich ohne Kenntnis derselben nicht 
in ihrer wahren Bedeutung erfaßt werden können. Mit Recht sagt des 
halb Trendelenburg 1 2 , die Philosophie der Leidenschaften, dieser 
1 8. th. 1, 2, q. 24, a. 1. 
2 Naturrecht auf dem Grunde der Ethik 2 (1868), 8 37.
	        
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