Full text: Allgemeine Moralphilosophie. (01)

1. Begriff und Wesen der Leidenschaften. 
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allen Regungen des sinnlichen Begehrungsvermögens, da zwischen den 
stärkeren und schwächeren kein wesentlicher Unterschied besteht. Bei allen 
Erregungen des sinnlichen Begehrungsvermögens, besonders bei den 
stärkeren, treffen folgende zwei Bedingungen zusammen, welche sie zu 
Leidenschaften machen. 
a) Der Begehrende wird körperlich, also nicht bloß geistig, 
verändert und von einem Zustand in einen andern versetzt. Im sinn 
lichen Begehrungsvermögen wirken Leib und Seele als einheitliches Tä 
tigkeitsprinzip zusammen, so daß bei jeder Erregung desselben eine leib 
liche Veränderung vor sich geht, die sich besonders in unserem Herzen 
und im Blutumlauf fühlbar macht. Der Zorn treibt das Blut in den 
Kopf, die Furcht schnürt das Herz zusammen, die Freude erweitert es. 
Es gibt aber zwei Arten von leiblichen Veränderungen, die mit den 
Leidenschaften verbunden sind. Die einen sind bloße Wirkungen und 
äußere Zeichen der Leidenschaften, so die Tränen und das Lachen. Die 
andern dagegen sind innerliche und wesentliche Bestand 
teile der Leidenschaften. Gleichwie nicht das leibliche Auge allein und 
auch nicht die Seele allein sieht, sondern das von der Seele be 
lebte Auge, so ist es auch nicht die Seele allein, welche zürnt oder 
Kummer empfindet, sondern das von der Seele belebte leibliche Organ 
des sinnlichen Begehrungsvermögens. Es gibt zwar den Leidenschaften 
ganz analoge Affekte im Willen. Auch der Wille kann lieben und hassen, 
sich freuen und trauern. Aber diese rein geistigen Affekte sind keine 
Leidenschaften. 
b) Zweitens empfindet der Begehrende durch die Leidenschaft gewisser 
maßen einen Zug nach irgendeiner Richtung. Das sinnliche Streben 
zieht den Menschen zu einem Gegenstände hin oder von ihm ab. Weil 
der ganze Mensch diesen Zug erfährt, und zwar vielfach unabhängig 
vom freien Willen, so verhält er sich hierin mehr leidend als tätig. 
Der Umstand, daß im Tiere kein höherer Teil ist, der von den niederen 
Regungen hingerissen wird, erklärt uns, warum wir fast nur beim 
Menschen von eigentlichen Leidenschaften reden, selten aber beim Tiere, 
obwohl letzteres vielfach die gleichen Regungen erfährt. 
Wegen dieser zweiten Bedingung nennen wir die Tätigkeiten des 
sinnlichen Erkenntnisvermögens nicht Leidenschaften. Auch beim sinn 
lichen Erkennen finden Veränderungen in den leiblichen Organen statt; 
aber wir drücken dabei das Bild des Erkannten in uns aus, ohne zu 
dem Gegenstände hingezogen oder von demselben abgestoßen zu werden. 
Erst wenn das Erkannte auf unser Begehrungsvermögen anziehend 
oder abstoßend einwirkt, treten wir aus unserem Gleichgewicht und 
erleiden eine Bewegung, die nicht von uns, sondern von der Beschaffen 
heit des Erkannten abhängt. Darum drücken wir auch diese Regungen
	        
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